BERLIN. Wladimir Kaminer ist ein Reiseschriftsteller mit starken Botschaften. Während die EU um ihren Platz in der Welt kämpft, betätigt der Bestsellerautor aus Berlin sich als Brückenbauer und verkostet mit Georgiern Wein oder verspeist mit Spaniern Fischköpfe. Sein neues Buch »Mahlzeit!« ist ein Plädoyer dafür, mehr mit Fremden zu reden. Völkerverständigung durch den Magen eben. Mit Wladimir Kaminer, 57, sprach Olaf Neumann über die flüssige Küche, Moldaus neuen Meerzugang und ein Europa der Zukunft.GEA: Ihr neues Buch heißt »Mahlzeit! Geschichten von Europas Tischen«. Ist Essen aus Ihrer Sicht die beste Möglichkeit, sich einer anderen Kultur anzunähern?
Wladimir Kaminer: Ja, überhaupt, um mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Selbst in der eigenen Kultur hat man zurzeit Schwierigkeiten. Oft weiß man gar nicht, wie es dem nächsten Nachbarn gerade geht. Mir scheint, als würde das Essen der letzte Zusammenhalt einer Gesellschaft sein. In meinem Buch »Mahlzeit!« werden aber keine Rezepte präsentiert.
Spricht man mit Fremden weniger gehemmt als mit Freunden oder Familie?
Kaminer: Bei mir ist es eine besondere Situation. Da ich als Schriftsteller, Geschichtenerzähler oder Vertreter der deutschen Kultur unterwegs bin, werde ich überall als Freund empfangen. Im europäischen Ausland halten mich viele Leser für einen Freund oder guten Bekannten. Und ich tue bei Fremden immer so, als seien sie wirklich mit mir verwandt.
Stellen Sie sich im Ausland als Russe oder eher als Deutscher vor?
Kaminer: Ich weiß noch immer nicht, wer ich bin. Ich habe eine Badegastmentalität. Ich bin in der Sowjetunion sozialisiert worden, in einem ideologischen Komplex, der sich im vorigen Jahrhundert aufgelöst hat. Das passiert jedem Imperium früher oder später. Inzwischen weiß kaum noch jemand, wie die Sowjetunion war. Nüchtern gesehen bin ich ein sowjetischer Mensch mit einem deutschen Pass.
Sie möchten nicht gern in politische Diskussionen verwickelt werden. Wie vermeiden Sie es?
Kaminer: Wir leben in einer Zeit, in der jede Diskussion politisch wird, auch, wenn es ums Essen geht. In diesem Buch versuche ich anhand von Essensgeschichten, über politische Themen aufzuklären. Die Politik wird zum Alltag, im Alltag kommt man am besten übers Essen zu einer solidarischen Haltung.
Wie oft haben Sie es erlebt, dass das Kulinarische zur Überwindung von Vorurteilen geführt hat?
Kaminer: Schon oft. Meine Lieblingskapitel in dem Buch sind die über die neuen EU-Länder und die EU-Kandidaten wie die Republik Moldau, die ewig beleidigten Bulgaren oder die Kroaten, die die EU quasi benutzen, um sich von den Serben abzugrenzen. Diese Länder sehen sich innerhalb der EU als nicht vollwertig an. In Bulgarien etwa kam bei der Übertragung der Europameisterschaft der Ton eine Sekunde eher an als das Bild. Die Bulgaren haben sich deswegen sehr aufgeregt und alle angeschrieben von der UNO bis zur FIFA. Aber niemand hat etwas unternommen.
Welche Vorstellung haben Menschen im ärmsten Land Europas, in Moldau, von Deutschland?
Kaminer: Diese Armut fällt einem nicht wirklich auf. Ich habe in Berlin viel mehr Obdachlose, Arme und Kranke unter den Brücken gesehen als in Kischinau, der Hauptstadt Moldaus, wo alles ziemlich gut gepflegt ist. Vielleicht ist es ja wirklich so, dass in armen Ländern Menschen mehr Solidarität füreinander zeigen. Bei Spaziergängen über den Markt in Kischinau bekommt man immer irgendetwas zum Probieren angeboten. Die Menschen dort halten die EU für eine Art Schatzinsel, aber das ist wohl mehr Mythos als Wahrheit. Man könnte diesen Mythos doch benutzen, um ein gescheites Europa der Zukunft zu erschaffen.
Das Konzept Europa hat aus Ihrer Sicht Zukunft?
Kaminer: Eine Chance, ja. Der Name ist ja schon mal gut. Europa hat eine lange Geschichte. Ich habe eine Statistik gelesen über die Völker Europas, die sich ihren Nachbarn kulturell überlegen fühlen. Die Griechen waren da natürlich ganz vorne, und dann kamen Albanien und Serbien, die sich alle für kulturell besonders hoch entwickelt halten. Und nicht etwa Frankreich oder Deutschland, das Land der Dichter und Denker. Der Trick wäre zu zeigen, dass all die unterschiedlichsten Völker miteinander besser leben als gegeneinander. Dann hätte die EU eine große Chance für die Zukunft der Welt.
Von einem Hotelier haben Sie erfahren, dass US-Touristen eine Reise nach Berlin absagten, weil ihnen die deutsche Hauptstadt zu nah an der Front zu liegen schien. Reisen Sie selbst vorsichtiger, seit Russland Krieg gegen die Ukraine führt?
Kaminer: Mein Freund Yuriy zum Beispiel, mit dem ich 20 Jahre lang die »Russendisko« betrieben habe, fährt jetzt noch regelmäßig nach Charkiw zum Musikmachen, obwohl es beinahe täglich bombardiert wird. Ich war in der Republik Moldau 100 Kilometer vor Odessa. Meine Erfahrung ist, je näher an der Front, desto ruhiger die Menschen. Da wird Krieg zur Routine. Je länger dieser unsägliche Krieg andauert, umso fatalistischer werden die Leute. Wenn du von früh bis spät diese Alarm-Warnungen bekommst, macht es keinen Sinn, sich ständig darüber aufzuregen. Entweder trifft es dich oder nicht. Das Leben muss weitergehen.
Hat das Essen in diesen chaotischen Zeiten eine besondere Funktion in einem Land wie der Republik Moldau?
Kaminer: Ja, die Restaurants der halben Ukraine mit ihren Köchen sind dahin abgewandert. Am Schwarzen Meer wird geschossen, deshalb ist die Kette »Das Schwarze Meer« jetzt nach Kischinau übergesiedelt. Die Republik Moldau hat dadurch einen Meereszugang bekommen.
Sie schreiben auch über »Georgiens flüssige Küche«. Die Georgier haben den Wein erfunden, jedenfalls behaupten sie das. Ist die flüssige Nahrung dort von besonders hoher Qualität?
Kaminer: Nicht der Wein selbst, aber der Umgang mit diesem Produkt faszinierte mich. Der angeborene Stolz der Georgier scheint etwas ganz Besonderes auf der Welt zu sein. Egal, wo man ist – in einer Kirche, bei der Polizei, in einem Buchladen – sofort muss man einen Wein probieren. Das ganze Land ist eine pausenlose Weinverkostung. Darum muss man nach Georgien immer eine zweite Leber mitnehmen. (GEA)
Wladimir Kaminer: »Mahlzeit! Geschichten von Europas Tischen« (Penguin Randomhouse)
Lesung: 7. Januar, franz.K, Reutlingen