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Leoniden in Tübingen: Indie-Punkrock-Electro-Overkill mit Botschaft

Die Kieler Band Leoniden bringt im Tübinger Sudhaus den ausverkauften Saal zum Toben, Tanzen und Mitsingen. Dazu nimmt Sänger Jakob Amr zu Frauen- und Queer-Rechten Stellung.

Leoniden-Frontman Jakob Amr richtet an die Fans einen ernsten Appell - für Menschlichkeit und Rücksichtnahme, Bildung und Zuhöre
Leoniden-Frontman Jakob Amr richtet an die Fans einen ernsten Appell - für Menschlichkeit und Rücksichtnahme, Bildung und Zuhören. Foto: Claudia Reicherter
Leoniden-Frontman Jakob Amr richtet an die Fans einen ernsten Appell - für Menschlichkeit und Rücksichtnahme, Bildung und Zuhören.
Foto: Claudia Reicherter

TÜBINGEN. Den Leoniden muss widersprochen werden. Vehement. Denn ein Hit vom neuen Album »Sophisticated Sad Songs« heißt »I Keep Fucking Up« - und was die bereits 2005 als Schülerband noch in leicht variierter Besetzung gegründete Kieler Truppe am Freitagabend live im Tübinger Sudhaus-Saal ablieferte, hat mit Versauen oder Mistbauen nichts zu tun. Die haben vielmehr alles richtig gemacht. »Big time«, möchte man im Stil von Frontman Jakob Amrs versiertem Ansagen-Denglisch noch hinterherschieben.

Der erblondete Sänger mit Schnäuzer bedient mit dem Kappe tragenden Djamin Izadi im Zentrum der Bühne die Synthesizer. Dazu spielt Jakob Amr Klavier und schlägt - auch mal auf dem Rücken liegend, von der Fanschar auf Händen über wogende Köpfe getragen - die Cow-Bells.

Virtuose Tänzchen

Links von den beiden Synthies zupft und haut Lennart Eicke nicht nur die Saiten seiner E-Gitarre, sondern lässt die regelmäßig wie auch das Mikro rotieren, schleudert beides in den Scheinwerferhimmel und legt das eine oder andere virtuose Tänzchen hin. Im rechten Bühnenteil bearbeitet Marike Winkelmann vergleichsweise unauffällig, also ohne Umstände punkig rockend, den Bass. Im Hintergrund drischt wohl Felix Eicke aufs Schlagzeug ein, aber den hört man mehr, als dass man ihn sähe.

Denn die im Stroboskoplicht aufblitzende Bühne, maschinenhallenhaft von hinten sowie durch gelegentliche Feuersäulen auch vorn beleuchtet, ist vollgepackt. Irgendwo steht auch noch ein Klavier. Und mitten im Saal ist ein weiteres platziert. Ganz in Weiß. Darauf zelebriert Amr später die seine eigenen Depressionen aufgreifende »Blue Hour«. Viel los ist auch im Publikum. Von der ersten Minute an feiern die Tübinger Fans mit ihren Kieler Helden eine wilde Indie-Punkrock-Electro-Party.

Das Tübinger Publikum: Top 3

Das rund zweistündige Set startet mit einem der krachenden »Complex Happenings« vom vorletzten Album. Die Devise, von Anfang an: »Lasst uns zusammen springen.« Positive Reaktionen auf die ins Publikum abgefeuerte Gold-Schnipsel-Ladung quittiert Amr mit einem anerkennenden »Hey, Ihr seid bulletproof!« und lobt beim Intro zu »Keep Fucking Up« weiter: »Da haben andere Städte schon verkackt.« Er will kein Schleimer sein, die Band habe »viele schöne Abende«, aber was die rund 800 Leute im ausverkauften Sudhaus zurückgeben, »das ist Top 3, auf jeden Fall«.

Der ebenfalls im Oversize-White-T zu Baggy-Jeans gekleidete Izadi fordert für den Fortgang des Abends: »Passt aufeinander auf.« Klar, neben der Mucke geht es bei einem Leoniden-Auftritt um Action. Auf und vor der Bühne. Die hyperenergetischen Anfang-Dreißiger hauen dem Fanvolk von Minute eins an einen so melodischen wie treibenden Sound-Overkill um die Ohren. Und die rund 800 jungen und älteren Frauen und Männer im vollgepackten Saal singen textsicher mit, hüpfen und tanzen ausgelassen - auf Amrs, Izadis oder Eickes Ansagen hin oder einfach so.

Eingestreute Cover-Versionen

Zu Neuem wie »Motion Blur«, »Never Never« und »Sierra« kommen ältere Hits: »Funeral«, »River«, später sogar »1990«, jener Song, den der passend nach einem Meteorstrom benannte Fünfer einst »als allererstes geschrieben« hat. Da scheint als Role Model mal Freddie Mercury durch und mal Bob Marley. Oasis und Nirvana huldigen die Fünf explizit durch eingestreute Cover-Versionen von »Wonderwall« und »Teen Spirit«. Dazwischen klingen The Notwist ebenso an wie Awolnation oder die Scissor Sisters.

Apropos »Sisters«: Vor dem ruhigeren Song vom selbstbetitelten Debüt bringt Jakob Amr noch eine ernste Botschaft unter. Aufgrund der »traurigen Wahrheit«, dass es auch am Vorabend des Frauentags 2025 keine wirkliche Gleichberechtigung gibt, sei es Zeit, den Mund aufzumachen. Als »Cis-Dude« hätte er bis vor Kurzem noch für »die gesamte deutsche Indie-Bubble« die Hand ins Feuer gelegt. »Die harte Wahrheit, dass man ein Teil des Problems ist«, sei schwer einzugestehen und tue weh. Umso wichtiger der Appell der Leoniden: »Bildet euch weiter, konsumiert Literatur, Musik, Filme und checkt eure Privilegien, hört zu.«

Goldregen und Feuerfontänen

Dann geht die Party weiter. Mit Goldregen und Feuerfontänen. Bis zu den Zugaben, die der Sänger mit »A Million Heartbreak Songs« an der Akustikgitarre eröffnet, um später mit den Cow-Bells übers Publikum zu surfen. Der Kracher »Keep Fucking Up« vom Anfang bleibt auch nach Konzertende lange im Ohr. Wer diese Ode an den notorischen Allesfalschmacher live wiederhören will, hat am 1. und 2. August beim U&D Festival in Mössingen Gelegenheit, die Leoniden samt ihrer Vorband Rosmarin nochmal zu erleben. (GEA)