STUTTGART. Ein Schuss fällt nicht. Zum winterlichen Brausen und Sausen der Musik schneien stattdessen Unmengen roter Rosenblütenblätter auf die Bühne. Werther kuschelt sich hinein in den Blütenhaufen, nachdem er endlich seinen riesigen Rosenstrauß abgelegt hat, den er die ganze Oper lang mit sich herumschleppen musste, weil er ihn seiner angebeteten Charlotte nicht überreichen konnte. Sie hatte ihn stets von sich gestoßen – wegen ihres Eheversprechens Albert gegenüber. Erst angesichts von Werthers Suizid wird sie dem Unglücklichen ihre Liebe gestehen.
Werthers Strauß hatte schon vorher immer wieder Blütenblättchen verloren, die sich wie Blutstropfen vom weißen Leuchten der kreisrunden Spielfläche absetzten. Weswegen Charlottes »Dieu! Du sang!« (»Oh Gott! Blut!«), das sie beim Auffinden des Sterbenden ausruft, dann schon unfreiwillig komisch wirkt, so dermaßen klar ist, was gemeint ist.
Das schier endlos wirkende finale Ableben der Titelfigur ist dann auch die schwächste Szene in Felix Rothenhäuslers Inszenierung von Jules Massenets romantischer Oper »Werther«, die jetzt an der Stuttgarter Staatsoper in französischer Originalsprache Premiere hatte. Der Regisseur wusste nicht wirklich etwas anzufangen mit diesem so destruktiven Charakter, der das »Nein« seiner Angebeteten einfach nicht akzeptieren will.
Denn anders als in der Vorlage, Goethes monologischem Briefroman »Die Leiden des jungen Werthers«, dessen Protagonist vor allem an der Welt leidet, geht Massenets Werther ausschließlich an der unglücklichen Liebe zu Charlotte zugrunde. Das macht diese Oper zu einem reinen Gefühlsdrama, das der Komponist aber psychologisch fein auszudeuten wusste – mit einem mächtigen Protagonisten an seiner Seite: dem Orchester.
Orchester im Bühnenhintergrund
Eine gute Idee war es also, das Staatsorchester nicht im Graben, sondern auf der offenen, im Halbdunkeln liegenden Hinterbühne zu positionieren. Schön sieht es aus, das Meer aus leuchtenden Pultlämpchen. Und Musik erklingt, die sich ins Gehör und Gehirn bohrt, die einen von Anfang bis Ende kaum atmen lässt. Marc Piollet am Dirigierpult sorgt für die immense Sogkraft dieser Musik, für Transparenz und Struktur: Das Orchester ist hier Seelenlandschaft der Protagonisten, die Unbewusstes zutage fördert, Finsteres vorausahnt, zaudert, sich in Vorfreude juchzend aufhellt, euphorisch tiriliert, sich in bohrender Todesahnung verdunkelt. Besonders intensiv zu Beginn des dritten Aktes, wenn Charlotte, mit sich alleine, sich ihrer wahren Gefühle bewusst wird.
Die großartige Mezzosopranistin Rachael Wilson singt das ergreifend und schön: die Zweifel, die Angst, der innere Aufruhr, die Euphorie. Mit warmer, leicht erreichter Höhe, mit fein differenzierten Gefühlsfarben. Selbst zu finsterer Grabestiefe findet ihre Stimme.
Solch feinen emotionalen Aufbau vermisst man dagegen beim Tenor Arturo Chacón-Cruz als Werther. Eine schöne Stimme mit sehr viel Italianità hat der Mann, mit warmem Schmelz und emotionaler Tiefe, aber Werthers Dauerschmerz und grenzüberschreitende Gefühlswelt setzt ihn streckenweise zu sehr unter Druck. Dann wird er zu laut, setzt bei den Hochtönen zu viel Kraft ein, um noch differenzieren zu können.
Dabei hat er eigentlich alle Zeit der Welt. Denn im minimalistischen Bühnenbild von Katharina Pia Schütz, einer leuchtenden, runden Spielfläche, die ins Parkett hineinragt, passiert wenig: Man steht dort, sitzt oder liegt, umkreist den anderen, beobachtet, dreht ihm den Rücken zu – immer auf Distanz.
Kinderlied auf der Bühne
In den Weihnachtsstimmungsszenen klettern Kinder aus den ersten Zuschauerreihen auf die Bühne, um ihr Liedchen zu singen. Der Werther-Konkurrent Albert, den der Bariton Pawel Konik rollengemäß mit stoischem, selbstbewusstem, kraftstrotzendem Ausdruck singt, sitzt während der gesamten Schlussszene in der ersten Reihe und schaut dem Sterben Werthers mitleidlos zu.
In der kammerspielartigen Dreiecksgeschichte, die ohne Chor auskommt, gibt es wenige Alibi-Nebenfiguren. In Stuttgart sind davon lediglich zwei übrig geblieben: Charlottes Vater und ihre Schwester, von Shigeo Ishino in Wachmann-Montur und Aoife Gibney in grünem, breitschultrigem Outfit mit Aktentasche gegeben (Kostüme: Elke von Sivers). Beide singen das gut, werden aber nicht wirklich einleuchtend in die Inszenierung integriert. (GEA)