STUTTGART . Runde Jahreszahlen gehören gefeiert. Vor 100 Jahren war die neu erworbene Kunstsammlung der Stadt Stuttgart zum ersten Mal in einer Ausstellung zu sehen. Vor 20 Jahren bekam die Sammlung einen Glaskubus am Schlossplatz – das Kunstmuseum Stuttgart. Andere würden das mit Sekt begießen, das Kunstmuseum mit seiner Leiterin Ulrike Groos feiert mit einer »Doppelkäseplatte«. So der Titel der Ausstellung, die nun gestartet ist – und so der Titel eines der markantesten und, nun ja, anrüchigsten Werke.
Dieter Roth, berüchtigter Künstler der Fluxus-Tradition, belegte dafür 1968 zwei Glasscheiben mit Käsescheiben und fügte sie in Bildform zusammen. Das eigentliche Gestaltungswerk erledigen seither Mikroben. Das Werk hat einen Reifeprozess durchlaufen. Wie auch, auf andere Art, die städtische Kunstsammlung und das Museum. Von den wilden Zwanzigern mit der Ironie eines Otto Dix über das Blut-und-Boden-Pathos 30er, das Informel der 50er, Fluxus und Konkrete Kunst der 60er bis zur Digitalkunst der Gegenwart.
Gestern trifft heute
In sieben Kapiteln befragt das Kunstmuseum seine Sammlung – wobei sich in jedem Raum ein anderer der sechs hauseigenen Kuratoren »austobt«. Im großen Entrée-Saal im Erdgeschoss prallen die markanten Schauplätze von damals und heute zusammen: links an der Wand die schmucke historische Villa Berg, wo 1925 die erste Schau über die Bühne ging, rechts der gläsern-moderne Kunstwürfel. Über die hintere Wand zieht sich riesig eine Malerei von Heinz Zolper von 1990, in der Stuttgarter Wahrzeichen übereinanderpurzeln.
Ein poetisch-intimes Stuttgartporträt findet man einen Stock tiefer in Form einer Videoarbeit von Nevin Aladag. Auf drei Videowänden entwickeln Instrumente inmitten der Stadt ein Eigenleben. Werden nicht von Menschenhand zum Klingen gebracht, sondern von Schaukel, Karussell, Wind oder Luft aus einem Luftballon. Ein Akkordeon, eine Trommel, ein Gong, eine alte Trompete, eine Geige singen in der Stadt ihr einsames, leicht skurriles Lied. Wunderbar.
Puppe mit Rakete
Die sieben Themenräume machen die Linien der Sammlung klar, überraschen mit Unbekanntem und mucken gegen das Establishment auf. In einem Raum zum Feminismus attackieren Anne Marie Jehle, in den 1970ern aktiv, und ihre 20 Jahre später tätige Kollegin Susanne Hofmann Klischees vom Heimchen am Herd. Eine Schaufensterpuppe bekommt Raketenantrieb, Schulaufsätze werden übernäht. Eine Entdeckung.
Ausstellungsinfo
Die Ausstellung »Doppelkäseplatte. 100 Jahre Sammlung. 20 Jahre Kunstmuseum« ist im Kunstmuseum Stuttgart am Schlossplatz bis 12. Oktober zu sehen, Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, Freitag bis 21 Uhr. Der Eintritt zu dieser Ausstellung ist frei, ermöglicht durch Förderung durch die LBBW und die Stadt Stuttgart. Im Media-Guide geben die Kuratoren persönliche Einblicke und Anekdoten. Kinder finden an vielen Kunstwerken über das Symbol »Krixel« per QR-Code Infos und Geschichten. Es gibt ein Begleitiprogramm mit Konzerten, Performances und Workshops. (GEA)
www.kunstmuseum-stuttgart.de
Zunächst jedoch grüßen Fritz Langs Blumenstillleben in Farbholzschnitttechnik. Und Christian Jankowskis gestapelte Lobreden für fiktive Preisträger. Während die Mikroben in Roths »Doppelkäseplatte« hinten an der Wand ihr Gestaltungswerk unbeeindruckt fortsetzen.
Glöckchen für Stankowski
Einen Raum mit Überhöhe bekommt Anton Stankowski gewidmet, ein Schwergewicht der Sammlung – und Zentralgestalt des Designs wie der Konkreten Kunst. Sein ausgeklügeltes Spiel von Linien, Flächen und Farbtönen findet seine tönende Fortsetzung in einer mit Glöckchen bestückten, drehbaren Wandarbeit der Koreanerin Haegue Yang. »Immer wenn jemand den Raum betritt, setzt es die Aufsicht in Bewegung«, verspricht Museumsleiterin Groos.
Gleich darauf stolpert man buchstäblich über einen Konsumtempel als Bodenarbeit. Stößt auf einen Bunker im handlichen Vorgartenformat – keine schlechte Idee in diesen Tagen. Es geht um Konsum und Kapital und Militarismus, mit Gerda Brodbecks sanft verwehten Frauenporträts als Gegenpol. Gleich darauf gilt es, Albrecht/d. und Dietrich Fricker zu entdecken. Stuttgarter, die in den 1970ern aus dem rauen Charme der Punkszene schöpften, wilde Assemblagen schufen.
Malerei trifft digitale Welt
Einen Stock höher prallen Malerei und digitale Welt aufeinander. Hier Ben Willikens und Vivian Greven, dort Tim Berresheim. Letzterer scannt seinen Körper ein, montiert ihn computergestützt in Bilder, die so tun, als seien sie Malerei. Während die anderen malerisch Bilder erzeugen, die wirken wie am Rechner ertüftelt.
Ein serielles Raster von Damenschlüpfern von Sonja Yakovleva leitet über von den digitalen Bildwelten zur körperlichen Direktheit eines Otto Dix, einer Kara Walker. Dix, weiteres Schwergewicht der Sammlung, ist mit seinen aufwühlenden Radierungen zum Krieg vertreten. Blätter, die die US-Amerikanerin Walker tief beeindruckten. So, wie sie auch Dix' sanft-melancholische Zeichnungen von Schwangeren aufgreift.
Großes Finale zur Malerei
Das Finale im 3. Obergeschoss huldigt ganz der Malerei. Mit Stuttgarts modernem Klassiker Adolf Hölzel, seiner bedeutenden Kollegin Ida Kerkovius. Mit feierlicher Glaskunst, haptischen Textilbildern, Riesenformaten von Markus Oehlen, in denen das Sampling der Popkultur widerhallt. Das alles umkreist eine Installation von Dana Greiner, in der sich zwei Gemälde gegenseitig betrachten, während sich zu ihren Füßen Glasbausteine ausbreiten, durch eine schwarze Mauer getrennt. Die Kunst, sie bespiegelt sich selbst, überwindet das Trennende. Damit hätte sie in diesen Zeiten viel erreicht. (GEA)