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Kunstmuseum Reutlingen würdigt im Spendhaus den Künstler Strawalde

Das Kunstmuseum Reutlingen würdigt im Spendhaus den Künstler Strawalde. Er erhält den Jerg-Ratgeb-Preis

Anna Nerobova (links) und Ina  Dinter haben die Ausstellung im Reutlinger Spendhaus kuratiert.  Hier sind sie vor Strawaldes Gem
Anna Nerobova (links) und Ina Dinter haben die Ausstellung im Reutlinger Spendhaus kuratiert. Hier sind sie vor Strawaldes Gemälden »Prophetin« (1992, links) und »Bildnis« (1993/2001) zu sehen. FOTO: STRÖHLE
Anna Nerobova (links) und Ina Dinter haben die Ausstellung im Reutlinger Spendhaus kuratiert. Hier sind sie vor Strawaldes Gemälden »Prophetin« (1992, links) und »Bildnis« (1993/2001) zu sehen. FOTO: STRÖHLE

REUTLINGEN. Es war vor allem seine Filmkunst, die ihn öffentlich durch die Jahrzehnte begleitet hat und mit der er sich einen Namen machte. So erhielt Jürgen Böttcher unter anderem das Filmband in Gold (Ehrenpreis, 1992), einen Preis der Defa-Stiftung für die Verdienste um den deutschen Film (2003) und eine Berlinale-Kamera (2006). Filmretrospektiven fanden im Centre Pompidou in Paris, auf dem Internationalen Filmfestival Edinburgh und im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt am Main statt. Unter dem Pseudonym Strawalde gehört der heute 90-Jährige in Deutschland aber auch zu den Großen der Malerei, was die Jury des Jerg-Ratgeb-Preises in diesem Jahr durch die an ihn vergebene Auszeichnung unterstreicht. Am Sonntag wird der in Berlin lebende gebürtige Sachse und frühere DDR-Bürger zur Preisverleihung im Reutlinger Rathaus erwartet.

Der mit 20.000 Euro dotierte Ratgeb-Preis, einst ins Leben gerufen von den Künstlern HAP Grieshaber und Rolf Szymanski und von der HAP-Grieshaber-Stiftung alle vier Jahre vergeben, würdigt ein Lebenswerk. Er beinhaltet neben dem Preisgeld auch eine Ausstellung mit Begleitpublikation im Kunstmuseum Reutlingen. Im Spendhaus-Erdgeschoss und im darüberliegenden Stockwerk kann man von Sonntag an bis zum 21. August eintauchen in Strawaldes beeindruckende Bildwelten. Einige seiner Filme gibt es dann an anderer Stelle, am 26. Juni und 10. Juli im Programmkino Kamino, zu sehen.

Übermalte Kunstpostkarten

Die Ausstellungskuratorinnen Ina Dinter und Anna Nerobova, Leiterin des Reutlinger Kunstmuseums und dessen wissenschaftliche Volontärin, wollen, wie sie sagen, »das Wesentliche und Wiederkehrende der Bildkunst Strawaldes« in fünf Ausstellungskapiteln erlebbar machen. »Wirklichkeitsmuster« heißt das erste. Hier begegnen einem neben zwischen 1948 und 2009 entstandenen Selbstporträts auch einige der zugleich Lebensfreude und Trauer ausdrückenden großformatigen Frauenporträts, die aus dem ansonsten nonfigurativen späten Œuvre herausstechen.

»Bildnis« heißen sie, »Prophetin« (eine Figur ohne Augen) oder »Heroine«. Bei letzterem baut Strawalde einen humorvollen Bezug zu Pablo Picasso ein. Als »Bilder der Sehnsucht und der Sehsucht« hat der Kunsthistoriker Matthias Flügge sie bezeichnet. Er hält am Sonntag im Rathaus die Laudatio. Es gebe selten Künstler, die sich »so frech mit der Kunstgeschichte auseinandersetzen – wer übermalt schon Rembrandt?«, sagt Reutlingens Kulturamtsleiterin Anke Bächtiger. Strawalde tut es. Im ersten Obergeschoss kann man sein »Spiel mit der Kunst« – so die Kapitelüberschrift – entdecken.

AUSSTELLUNG UND FILMPROGRAMM

Die Ausstellung »Strawalde. Hunger nach Bildern. Jerg-Ratgeb-Preis 2022« ist vom 15. Mai bis zum 21. August im Kunstmuseum Reutlingen/Spendhaus, Spendhausstraße 4, zu sehen. Geöffnet ist Mittwoch, Samstag, Sonntag und Feiertag von 11 bis 18 Uhr, Donnerstag und Freitag von 14 bis 20 Uhr. Die Preisverleihung ist am Sonntag, 15. Mai, um 11 Uhr im Ratsgebäude am Marktplatz (Zugang über die Freitreppe nach vorheriger Anmeldung unter kunstmuseum@reutlingen.de). Der Ausstellungskatalog ist im Distanz-Verlag, Berlin erschienen. In Kooperation mit dem Reutlinger Programmkino Kamino finden zwei Matineen (26. Juni und 10. Juli jeweils um 11.15 Uhr) statt, in denen Jürgen Böttchers Filme »Barfuß und ohne Hut« (1964), »Drei von vielen« (1961), »Martha« (1978) und die Dokumentation »Der Maler und Filmemacher Jürgen Böttcher – Strawalde« (2004) gezeigt werden. (GEA) www.kunstmuseum- reutlingen.de

Es ist ein wahlweise respekt- oder humorvoller Dialog mit Vertretern der Kunstgeschichte, in den der Künstler hier eintritt, indem er Kunstpostkarten in Variationen übermalt. Darunter Paulus Potters Gemälde »Der Stier« aus dem 17. Jahrhundert. »Einmal wirkt es so, wie wenn ein rosa- oder bronzefarbener Nebel diesen Stier überdeckt«, sagt Ina Dinter. »Dann ist der Stier in einem Kasten drin, wie ein Bild im Bild. Dann wiederum ist plötzlich dunkelschwarze Nacht, oder es reitet eine Dame im blauen Kleid ganz wild.« Immer wieder fänden sich auch geometrische, mysteriöse Formen, die diese Bilder verrätselten. Oder Strawalde gestaltet Paraphrasen auf die Kunstgeschichte.

Unter der Überschrift »Tuschetanz« gruppieren sich in der Ausstellung Arbeiten Strawaldes, in denen aus schwarzer, blauer und roter Tusche Fantasiegeschöpfe, merkwürdige Zeichen und verzauberte Landstriche erwachsen. Die skripturale Geste ermögliche es dem Künstler, auf dem Papier frei und ungebunden zu sein, erklären die Kuratorinnen, die Strawalde in seinem Atelier in Berlin besucht haben. Wichtigster Leihgeber für die Ausstellung ist der Künstler selbst, etliche der gezeigten Werke hat die private Kunstsammlung FriLo in Isny beigesteuert. Auch ein Ölgemälde aus einer Reutlinger Privatsammlung ist unter den knapp 80 Exponaten. 1998/99 hatte es bereits eine Strawalde-Ausstellung in Reutlingen gegeben.

Von einer durch die Kunst nach außen gewandten Innerlichkeit zeugen unter der Überschrift »Schwarzweiß, doch voller Wunder« versammelte Werke. Das Zitat stammt von Jürgen Böttcher, bezieht sich eigentlich auf Filme. Das Schwarz ist für Strawalde älter als das Licht, es gehe den Farben voraus, hat er einmal gesagt. In dem Gemälde »Schwarze Frau« (1992/2008) hat er, wie Anna Nerobova verdeutlicht, eine Figur – Ton in Ton – aus dicker Materie aus der Farbe herausgearbeitet. Das Schwarzweiß in Strawaldes Malereien, Collagen und Zeichnungen sei ganz konkret aus den Erinnerungen an das verkohlte Dresden nach dem Zweiten Weltkrieg geboren. Aber auch aus der Hoffnung, die jedem Neubeginn innewohne.

Der ewige Neubeginn ist für ihn auch ein Befund aus der Natur. Das Kapitel »Gebärden von Büschen und Bäumen« zeigt dieses tiefe Naturempfinden, das den Künstler seit seiner Kindheit nicht loslässt. (GEA )