STUTTGART. Am Mittwochmittag hätte man vor dem Wizemann denken können, es wäre wieder 2006. Mit Decken saßen gut dreißig Fans schon sieben Stunden vor Konzertbeginn auf dem Boden vor der Halle und campierten, um Bill, Tom, Georg und Gustav aus der ersten Reihe sehen zu können. 2006 spielten die vier, die als Tokio Hotel die wohl erfolgreichste deutsche Teenie-Band waren, noch in der ausverkauften Schleyerhalle. Damals wurden schon auf dem Wasen-Gelände Wellenbrecher aufgestellt, um die Fanmassen in Schach zu halten. Im Wizemann hat es keine Wellenbrecher gebraucht, auch das Campieren hätten sich die Hardcore-Fans sparen können, denn die Halle war am Abend nur halb voll.
Tokio Hotel sind nicht mehr 16 und machen auch nicht mehr die Musik, die sie mit 16 gemacht haben. 2010 sind die Zwillinge Bill und Tom Kaulitz aus ihrer Heimat Magdeburg über Nacht mit dem Privatjet nach Los Angeles geflüchtet. Der Fan-Wahnsinn war nicht mehr auszuhalten, erzählen die beiden heute. Tokio-Hotel-Anhänger waren damals in ihr Haus in Magdeburg eingebrochen und hatten persönliche Gegenstände geklaut.
Von Kalifornien sind Tokio Hotel nie zurückgekommen, weder körperlich noch musikalisch. Die neuen Songs heißen nicht mehr »Spring nicht« oder »Schrei!«, sondern »Dream Machine« oder »Love Who Loves You Back«. Von der rotzigen Punk-Attitüde ist nichts mehr übrig, Tokio Hotel machen jetzt Pop mit vielen elektronischen Elementen. Die neue Single »Melancholic Paradise« ist der Titelsong der aktuellen Staffel von Germany’s Next Topmodel; Gitarrist Tom Kaulitz ist mittlerweile mit Heidi Klum verlobt.
Im Wizemann spielen Tokio Hotel fast nur die neuen, englischen Songs, viele Fans schreien nach den alten Liedern. Bei einem Song holt Sänger Bill sechs Fans auf die Bühne, nicht aus Gutherzigkeit, sondern weil sie die extra teuren VIP-Tickets gekauft haben.
Bill im Pharao-Kostüm
Bill wechselt ständig die Outfits, mal ist er als ägyptischer Pharao verkleidet, mal als Footballspieler im Glitzertrikot. Es ist toll, ihn so zu sehen; er hat Spaß und ist ein Performer, wie man ihn sonst aus Deutschland nicht kennt. Zwischen dem ganzen Glamour geht zwischendurch aber irgendwie die Musik verloren; die Zuschauer kreischen nicht wegen der Songs, sie kreischen wegen Bill und Tom.
Wenn Tom Kaulitz anfängt, rockigere Gitarrenriffs zu spielen, dann klingt das auf einmal extrem gut und funky, ein bisschen so wie Daft Punk, und man will unbedingt mehr davon hören, was dieser Multiinstrumentalist für Musik machen kann. Aber immer wieder mischt sich bei den neuen Tokio-Hotel-Songs ein elektronischer Beat mit dazu, der auch auf jedem David-Guetta-Song läuft und damit alles irgendwie gleich klingen lässt.
Es ist gut, dass sich Tokio Hotel weiterentwickelt haben und ihr Ding machen, als 29-jährige Kalifornier kann man keinen Schüler-Punk mehr machen. Vielleicht ist es ja wirklich so, dass man in Deutschland seine Stars nicht richtig zu schätzen weiß. Tokio Hotel spielen in Russland und Japan größere Konzerte als in Stuttgart oder München. Vielleicht ist man in Deutschland einfach nicht weit genug, um diese Musik und diesen Starkult gut zu finden. Vielleicht ist Deutschland aber musikgeschmacklich auch weiter als zum Beispiel Amerika und die Menschen hier verstehen, dass gute Musik nicht einfach nur heißt, einen tanzbaren Beat unterzumischen. (GEA)