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Konzert in der Reutlinger Marienkirche: Ergreifende und betörende Klänge

Sebastian Schmidt und Friedemann Wuttke schlagen in der Marienkirche von Reutlingen den Bogen von Bach bis Piazzolla.

Sebastian Schmidt und Friedemann Wuttke in der Marienkirche Reutlingen
Sebastian Schmidt an der Violine und Friedemann Wuttke an der Gitarre bei ihrem Auftritt in der Marienkirche. FOTO: BERNKLAU
Sebastian Schmidt an der Violine und Friedemann Wuttke an der Gitarre bei ihrem Auftritt in der Marienkirche. FOTO: BERNKLAU

REUTLINGEN. Violine und Gitarre, das ist eine klanglich aparte Kombination, zumal wenn Könner die Instrumente bedienen. Anderthalb Corona-Jahre haben Sebastian Schmidt, Primarius des Mandelring-Quartetts, und Konzertgitarrist Friedemann Wuttke nicht mehr zusammen auftreten und auch kaum proben können. Deshalb merkte man ihnen am Mittwochabend die Freude an, in der Reutlinger Marienkirche die Sommermusik der Musica-Antiqua-Reihe eröffnen zu dürfen, die trotz Masken auch dem ganz vielzählig erschienenen Publikum eine große Freude bereitete, was am besonders freigiebigen Beifall abzulesen war .

Dass es nicht gar so viel Originalliteratur für die Besetzung gibt, ist nicht von besonderem Belang. Denn die Gitarre ist gleich dem Klavier ein ganz wunderbar geeignetes Begleitinstrument mit beachtlichen, wenn auch kleineren solistischen Möglichkeiten. Das Sonaten-Adagio von Johann Sebastian Bach zu Beginn zeigte gleich Friedemann Wuttkes Qualitäten: eine stoische Verlässlichkeit, gepaart mit geschmackvoll eingesetzter expressiver Phrasierungskunst nicht nur in den Passagen eigener Melodik, die erst später häufiger wurden.

Bei Bachs »Air«, ganz wundervoll geeignet für diese Besetzung, beeindruckte Sebastian Schmidt mit seinem im Kirchenschiff so besonders tragenden schönen Ton und einer Geläufigkeit, die er zwischendurch für Verzierungen einsetzte, die wahrscheinlich historisch üblich, für heutige Ohren aber nicht unbedingt nötig sein müssen, zumal diese unvergleichliche Kantilene sowieso schon extrem ausdifferenziert ist. Die ganze Zartheit und Zärtlichkeit von Mozarts Klaviersonate A-Dur, auch Tempo und Temperament, der ganze Zug des »Alla turca«-Satzes klingen auch in der Bearbeitung für diese beiden Instrumente hinreißend. Dass es schon in der zweiten Variation bei der Violine ein paar Haspler und auch Rhythmusdifferenzen mit dem Begleiter gab, war angesichts der Umstände verständlich und verzeihlich, denn Klang und Ausdruck störte das nur stellenweise und nur marginal.

Zurück ins Populäre

Ganz befreit, scheinbar ganz beglückt auch über das wiedergefundene Musizieren vor Publikum widmete sich das Duo im zweiten Abschnitt zwei Musikern des 20. Jahrhunderts, die mehr gemein haben, als man vielleicht zunächst denken sollte. Béla Bartók erschloss ja wie kaum ein anderer das rhythmische und melodische Potenzial der volkstümlichen Tradition über seine ungarische Heimat hinaus für eine höchst kunstvoll strukturierte Konzert- und Kammermusik. Die Rumänischen Volkstänze zählen zu den besten und berühmtesten Beispielen dafür, technisch ungemein herausfordernd – Flageolett-Passagen, Pizziccati, Arpeggien, extreme Lagen – und doch elementar ergreifend, wie es der Deutung des Duos darzustellen glückte.

Nicht anders beim Finale. Der Argentinier Astor Piazzolla ging auf den Rat seiner gestrengen Kompositionslehrerin Nadia Boulanger einen anderen und doch verwandten Weg: vom Pariser Konservatorium strenger Neuer Musik zurück ins Populäre, auch in dessen Haifischbecken, auch in die Bars von New York und die Tango-Kaschemmen von Buenos Aires – angefeindet von vielen Seiten. Er schuf mit seinen Tangos und Milongas, seiner einzigartigen Melodik seinen unverwechselbaren Sound des Tango Nuevo, bei dem es auf die instrumentale Besetzung überhaupt nicht ankommt, aber auf das Gespür, ob im Konzertsaal oder dem verruchten Tanzlokal. Und das hatten Sebastian Schmidt und Friedemann Wuttke im Überfluss, vom Beginn mit dem betörenden »Obliviòn« an bis zur Zugabe »Primavera«. Das heißt Frühling. Oder könnte auch so etwas wie Wiedergeburt bedeuten. (GEA)