REUTLINGEN. Was ist das für ein Orchester, das an diesem 1. März laut Internet gleichzeitig im Dresdner Zwinger und in der ausverkauften Reutlinger Kreuzkirche auftritt – und in zwölf Jahren nach eigenen Angaben mehr als zweitausend Konzerte gespielt haben soll? Dieses Wunder vollbringt das Dresdner Residenz Orchester, gegründet 2013 durch Professor Igor Malinovsky.
Derlei funktioniert nur mit einem großen Musiker/innen-Pool, aus dem von Fall zu Fall verschiedene Besetzungen zusammengestellt werden. In Musikerkreisen nennt man das »Telefon-Orchester«. Offenbar gibt es genug junge Instrumentalist/innen, die ihre Lage durch solche Jobs aufbessern (müssen). Wenn es schlecht läuft, wie hier, treten statt eines opulenten Klangkörpers nur sieben Personen an: zwei erste Violinen (mit Malinovsky als Primarius), eine zweite Violine, eine Bratsche, ein Cello, ein Kontrabass, dazu eine Pianistin am Konzertflügel. Ein weiterer junger Mann mit Geigenkasten verschwindet auf der Reservebank.
Klavier ersetzt Orchester
Aufgeführt werden acht bekannte Werke oder Sätze der drei Wiener Klassiker Haydn, Mozart, Beethoven plus Boccherini in neuen Arrangements, im Programmflyer als »Werke dieser Epoche« (der Zeit von Vivaldi, der sehr viel früher lebte) bezeichnet. Mangels Orchester muss dieses durch das Klavier ersetzt werden; zu hören ist hauptsächlich die Melodiestimme der zwei ersten Geigen. Zweite Geige und Viola sind kaum auszumachen. Boccherinis Menuett wird bunt aufgehübscht, während Mozarts »Alla Turca« auch in der Originalfassung für Klavier durch die versierte Pianistin hätte vorgetragen werden können. Auch das wird vom Ensemble gespielt.
Den zweiten Teil des Konzerts nehmen Vivaldis »Vier Jahreszeiten« ein. Wie oft Malinovsky den Solopart wohl schon gespielt hat? Im Jahresprogramm des Dresdner Residenz Orchesters für 2025 ist das beliebte Werk sage und schreibe etwa alle zwei Tage angesetzt. Entsprechend routiniert wirkt die Interpretation des Solos durch den Orchestergründer; das Publikum darf seine geigerische Leistung nach jedem Satz bejubeln.
Der Solist dominiert
Während es sich seit Langem eingebürgert hat, Vivaldis Concerti in barocker Manier aufzuführen, also etwa mit einem Cembalo, klingt es hier mit dem Konzertflügel wie anno 1970, als von »historisch informiert« noch keine Rede sein konnte. Agogik und Ausdruck sind unangemessen romantisch, der bunte Bilderbogen der Jahreszeiten wird plastisch nachgezeichnet – aber nur durch den Solisten Malinovsky: Er dominiert mit seiner handfesten Virtuosität. Die jungen Mitspieler begleiten im Hintergrund, statt mit ihm zu konzertieren.
Angesichts der schwierigen Umstände haben die sechs Musizierenden ihre Sache jedoch gut gemacht und den Jubel des Publikums verdient. (GEA)