REUTLINGEN. In der Coronazeit kann sie sehr leicht erwachen, die Sehnsucht nach einer guten alten Zeit – am Montagabend im Reutlinger Pappelgarten, wo TheMu, Förderverein für Theater und Musik, ein Jazzkonzert veranstaltet, liegt diese Zeit jedoch weiter zurück als nur zwei Jahre. Und die Sehnsucht führt hin auf jene Tage, in denen Crooner wie Frank Sinatra – der »Crooning« genannte Gesangsstil zeichnet sich durch Intimität und Wärme der Stimme aus – die Bühnen lässig und mit perfekter Intonation beherrschten. Kenny Washington tritt dort auf mit seinem Quartett und ist selbstverständlich weit mehr, als ein bloßes Sinatra-Substitut: Er ist ein Sänger von ganz eigenem Ton, eigenem Stil, mit Humor und Kontrolle über feinste Nuancen seiner Stimmführung, die sich vor großen Vorbildern durchaus nicht verstecken muss.
Stilvoll begleitet
Kenny Washingtons Quartett an diesem Abend ist tatsächlich das von anderen Auftritten bekannte Paul Kirby Trio mit dem Schotten Kirby am Piano, dem Südkoreaner Kim Minchan am Schlagzeug und Martin Zenker am Kontrabass – wunderbare Musiker, die Washingtons helle Stimme stilvoll begleiten und denen er denn auch viel Raum gibt: Paul Kirbys Piano setzt zuerst ein, mit flottem Swing, Minchan und Zenker folgen, Kenny Washington wartet noch abseits der Bühne, tritt dann auf, zieht sich bald schon wieder zurück, lässt dem Trio Zeit, sich einzuspielen, die Zuhörer in seine Musik hineinzuziehen.
Dann tritt Kenny Washington wieder ans Mikrofon, singt: »Put On Your Dancing Shoes, Come Dance With Me!«, natürlich ein Stück, das auch Frank Sinatra aufnahm, 1959, für sein gleichnamiges Album. Der Ton für diesen Abend ist gesetzt, es folgt ein entspannter Wechsel zwischen packenden Soli der drei Instrumentalisten und der sanften Coolness des Sängers, der Stücke, nicht nur aus Sinatras Repertoire, ausweitet zu vokalen Improvisationen, der mit den Silben spielt, den Farben der Sprache, so kontrolliert und doch immer voll von souveräner Emotion.
Staunenswerte Soli
Kenny Washington wurde geboren in New Orleans, zog später in den Raum um San Francisco, begegnete früh schon Wynton und Brandford Marsalis, arbeitete späterhin mit Wynton Marsalis, sang 2016 bei einem Tribute-Konzert zu Ehren Sinatras an dessen 100. Geburtstag. Seit einigen Jahren tourt Washington vornehmlich durch Europa, gesungen hat er auf der ganzen Welt: Ein kleingewachsener, eleganter Mann, der auf vielen Bühnen stand, in Reutlingen die Hände hebt, sein Publikum anstrahlt und sie grüßt, die »Music Lovers« überall auf der Welt.
Mit sanfter Autorität schwebt Kenny Washingtons Stimme über dem swingenden, lebhaften Spiel seiner Band; Silben, Noten bleiben lange liegen, klingen aus, wirbeln dann hoch, tanzen um die Melodie, fallen zurück. Schon das zweite Stück lässt Washington beginnen mit einer Scat-Einlage, baut mit seinem Gesang einen Rhythmus auf, in den erst Martin Zenkers Bass trocken und schwirrend einsteigt, dann die schnellen Besen von Kim Minchan, Paul Kirbys Akkorde – bald entwickelt sich das Stück und entpuppt sich als Version von Miles Davis’ »So What?«, temporeicher als das Original, ein Titel, bei dem die vier Musiker sich ausleben.
Paul Kirby übernimmt die Führung; auch Kim Minchan und Martin Zenker werden immer wieder staunenswerte Soli spielen. »Old Devil Moon«, ein anderer Sinatra-Klassiker, »I Got Rhythm«, »Perdidio«, »Bye Bye Blackbird« – das sind weitere Titel, die Kenny Washington und das Paul Kirby Trio im Reutlinger Pappelgarten spielen und mit denen sie die Zeit vergessen lassen. (GEA)