TÜBINGEN. Ein kleines, feines Konzert in einem kleinen, feinen Saal hat der Kammerchor Vokalkunst am Samstagabend gesungen. Verblüffend, wie klar, seidig und transparent die ehemalige Maschinenhalle des SWT-Kulturwerks die Stimmen der 23 Sängerinnen und Sänger transportiert! Das industrielle Ambiente erweist sich dabei als passend, denn es geht um Modernes. Sämtliche Komponistinnen und Komponisten leben noch, einige sind sogar noch recht jung; stark vertreten ist dabei das Baltikum.
Bei zeitgenössischer A-cappella-Musik denkt man womöglich an schroffe Geräusch-Experimente, doch darum geht es nicht. Sondern darum, wie sinnlich und beschwingt moderne Vokalmusik sein kann. Der Titel »Silberzunge« bringt es auf den Punkt: Silbriger Stimmglanz prägt das Ganze. Variiert wird er zu »Engelszungen«, »Honigzungen« und »Narrenzungen«, wie der angenehm unaufdringlich moderierende Bassist Jonathan Steinestel erläutert. Sprich: Erst geht es um Himmlisches, dann um die Liebe, schließlich um derbe Tavernenspäße.
Rhythmische Silbenteppiche
Toll, mit welchem Feinschliff die Sängerinnen und Sänger unter dem motivierenden Dirigat von Daniel Radde die Reize dieser modernen Stimm-Musik ausbreiten. Die schillernden Harmonien der geistlichen Stücke sind in aller Farbenpracht ausgesungen. Die rhythmisch dahineilenden Silbenteppiche vibrieren. Mal stehen leuchtende Klangfelder im Raum, dann gerät das vielstimmige Gewebe in fast jazzige Schwingung. Teils verstärkt durch Klatschen und Stampfen. So in »Jubilate Deo Universa Terra« von Tine Bec. Während bei Andrew Steffen sich zwei Engel einen stimmlichen Wettbewerb liefern. Und mit Ily Matthew Maniano die Herrlichkeit Gottes besungen wird. Was bei Kestutis Daugirdas in jubelnden Lobpreis explodiert: »Plaudite, Psallite!« – »Klatscht und singt Psalmen!«.
Reizvoll zwischen Kunst- und Volkslied vermitteln die Liebeslieder »Tykus, Tykus« und »Gula Meitina« von Vaclovas Augustinas und Karlis Rutentals. Im einen lässt der Geliebte sein Mädchen zurück, um in den Krieg zu ziehen, im anderen will er nicht wahrhaben, dass seine Gefährtin tot ist. Anrührend verdeutlicht der Chor das Schweben zwischen Sehnsucht und Schmerz, Hingabe und Trennung, gerade in der Schlichtheit eindringlich. Wohingegen Eric Whitacres Garcia-Lorca-Vertonung »With a Lily in Your Hand« in kunstvoll ausgefeilter Komplexität zu den Sternen aufbricht.
Hochbetrieb in der Kneipe
Darauf erstmal ein Bier: Michal Ziolkowskis Vertonung des mittelalterlichen Trinklieds »In Taberna«, das sich Carl Orff auch für seine »Carmina Burana« vorknöpfte, ist fast gesungene Theaterszene. Mit Jauchzern, weinseligem Glissandieren, Trinksprüchen, die sich in immer neuen Anläufen hochschaukeln, in sich zusammenfallen und zu neuen Steigerungen ansetzen. Dahinter passen bestens die wunderlichen Zahlenspielereien von Shruthi Rajasekar und das raffiniert wellende Jonglieren mit zischenden, perkussiven und melodischen Vokaleffekten von Jake Runestad. Da ist man schon ziemlich nah am Beatboxing.
Zum Schluss geht es mit dem titelgebenden »Silvertunga« von Nils-Petter Ankarblom wieder zurück zur volksliedhaft stampfenden Rhythmik. Ehe »Der Mond ist aufgegangen« die teils stehend Ovationen spendenden Zuhörer in den Sommerabend entlässt. (GEA)


