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Kühle Todesverachtung: Strawinskys »Le sacre du printemps« in Ulm

Die Premiere wurde zu Recht vom Publikum gefeiert: Annett Göhres Choreografie von Strawinskys »Le sacre du printemps« ist Sinnbild einer Existenzfrage.

Szene aus »Le sacre du printemps« in der Choreografie von Annett Göhre am Theater Ulm.
Szene aus »Le sacre du printemps« in der Choreografie von Annett Göhre am Theater Ulm. Foto: Ida Zenna
Szene aus »Le sacre du printemps« in der Choreografie von Annett Göhre am Theater Ulm.
Foto: Ida Zenna

ULM. Wie viel Ritual brauchen wir? Und welche Opfer sind wir bereit zu bringen? Diese Fragen stellt Choreografin Annett Göhre ins Zentrum ihrer Neuinszenierung von Igor Strawinskys Ballett »Le sacre du printemps«, die nun ihre vom Publikum zu Recht umjubelte Premiere am Theater Ulm feierte. Kongeniale Partner findet die Ulmer Ballettchefin in Annett Hunger (Ausstattung) und Felix Bender am Pult, mit dem sie zum ersten Mal zusammenarbeitet.

Bender hat sich – passend zur überschaubaren Größe des Philharmonischen Orchesters der Stadt Ulm und des Orchestergrabens – für die reduzierte Fassung von Jonathan McPhee entschieden: Strawinsky arbeitet mit massiven Bläserbesetzungen, die McPhee auf andere Stimmen verteilt – so gekonnt, dass die Komposition nichts von ihrer archaischen Wucht verliert.

Strawinsky trifft Respighi

Dem nur 35 Minuten dauernden Hauptwerk stellt Annett Göhre einen Prolog voran, das »Trittico Botticelliano« von Ottorino Respighi. Das Instrumentalwerk ist, obwohl 14 Jahre nach »Sacre« entstanden, mit seinen Anklängen an die Musik der Renaissance das krasse Gegenteil von Strawinskys Opus magnum: blumig, opulent, harmlos. Respighis Klangfarbenpracht spiegelt sich in der auffallend bunten Kleidung der Tänzer wider.

Dennoch sieht Göhre Parallelen zu Strawinsky und nimmt sie in ihrer virtuosen Bild- und Bewegungssprache vorweg: Die zehn Tänzer, fünf Männer, fünf Frauen, verlieren und finden sich immer wieder schwelgerisch in Reigen und Umarmungen – das Verhältnis des Individuums zur Gemeinschaft ist das große Thema der gesamten Inszenierung, die auch das Publikum mit einbezieht. »Was sind Sie bereit, für die Allgemeinheit zu opfern?« Das ist die Frage, die Göhre und Hunger den Zuschauern stellen. Sie steht auf einer großen Wand im Foyer geschrieben, die Zuschauer werden vor der Vorstellung zur Wahl gebeten. Blaue Bällchen landen in fünf durchsichtigen Plastikrohren: Wohlstand und Sicherheit? Erfolg und Karriere? Gesundheit und Wohlbefinden? Urlaub und Freizeit? Liebe und Freundschaft?

Schwarze Roben, blaue Handschuhe: Das Ulmer Ensemble in Strawinskys Frühlingsritual.
Schwarze Roben, blaue Handschuhe: Das Ulmer Ensemble in Strawinskys Frühlingsritual. Foto: Ida Zenna
Schwarze Roben, blaue Handschuhe: Das Ulmer Ensemble in Strawinskys Frühlingsritual.
Foto: Ida Zenna

Wie Annett Göhre die Brücke von Respighi zu Strawinsky schlägt, ist grandios. Hinter geschlossenem Vorhang hört man die Tänzer laut zählen. Beim Tanzen tun sie das grundsätzlich, aber eben nur im Kopf. Göhre macht dieses Detail hörbar – und die Zuschauer ratlos. War's das? Soll man nun klatschen oder nicht? Einzelne tun das, dann setzt das Orchester wieder ein und lässt Strawinskys Opferfestspiele beginnen. Bei der Uraufführung 1913 in Paris gab's Tumulte – nicht nur aus Empörung über die ungewohnt schroffe Musik, sondern vor allem auch über die wilde, animalische Choreografie mit stampfenden Tänzern, die einen Bruch mit allen Ballett-Konventionen bedeutete.

Jeder könnte das Opfer sein

Heute ist das Primitive, Brutale keine Provokation mehr. Die Ulmer Inszenierung lebt vom Understatement. Die Individualität, die sich im Respighi-Prolog in den bunten Kostümen ausdrückt, weicht der Uniformität: Das Ensemble trägt streng geschnittene schwarze, an Priestergewänder erinnernde Roben, die sich zu Beginn kaum vom schwarzen Hintergrund abheben. Zu sehen sind nur die blauen Handschuhe, die alle am rechten Arm tragen.

Blau und Schwarz – Annett Hunger beschränkt sich auf diese Farben, inklusive Beleuchtung, die maximale Kühle ausstrahlt. Das Ulmer Frühlingsopfer ist kein blutiges Gemetzel, sondern eine würdevolle Handlung, ein heiliger Akt. Entsprechend elegant ist die Körpersprache, sie bleibt im ästhetisch Abstrakten. Strawinskys Szenenüberschriften reduziert Göhre drastisch. Allzu Konkretes wie der weise Alte, der die Erde küsst, wird gestrichen, anderes in Andeutungen übersetzt: Das »Entführungsspiel« gehört zu den schönsten Bildern des Abends, es ist kein Akt der Gewalt, es hat die Leichtigkeit des Spiels.

Einsturz der Mauer

Aus Strawinskys schwarzem Labyrinth macht Annett Hunger eine Mauer aus beweglichen Steinen, am Ende wird sie einstürzen. Neun Tänzer demontieren das Bühnenbild Stück für Stück, während eine von ihnen, die Zehnte, geopfert wird. Es könnte auch einer sein, denn das muss für Göhre nicht zwangsläufig eine »Jungfrau« sein, wie es bei Strawinsky heißt. Wer die Opferrolle und damit auch das große Solo bekommt, ob Frau, ob Mann, wird von Vorstellung zu Vorstellung wechseln.

Göhres Inszenierung ist ein Psychodrama, das um die Frage kreist, wer der oder die Auserwählte sein wird – so lange, bis die Publikumsfrage als Projektion auf der schwarzen Mauer erscheint und das Urteil gefällt ist. Denn mit dem Abstimmungsergebnis steht auch das Opfer fest: Alba Pérez Gonzàlez darf bei der Premiere in den Tod tanzen. Und sie tut es in aller Würde und Todesverachtung – als Königin, nicht als Opfer. (GEA)