ZÜRICH. Performancekunst ist manchmal kein Zuckerschlecken – jedenfalls dann, wenn man sie so intensiv betreibt wie Marina Abramovic in ihren frühen »wilden« Jahren. Und auch in den zwölf Jahren, in denen sie mit Ulay, ihrem Lebensabschnittspartner, im Kleinbus durch ganz Europa tourte und gemeinsam mit ihm performte. Die beiden waren das Skandalpaar der Kunst. In einer fabelhaften Retrospektive blickt das Kunsthaus Zürich nun auf Werk und Schaffen von Abramovic zurück.
Eklat auf der Mauer
Das Ende ihrer Zusammenarbeit kam 1988. Nachdem die beiden in einem monatelangen Spaziergang auf der Chinesischen Mauer vom westlichsten und östlichsten Ende her aufeinander zugewandert waren, wollten sie eigentlich heiraten. Doch als sie nach 90 Tagen (in diesem Zeitraum hatten beide jeweils zweieinhalbtausend Kilometer zurückgelegt) in der Mitte des Schutzwalls zusammentrafen, kam es zur Entzweiung. Beide gingen fortan getrennte Wege.
Kennengelernt hatten sich die beiden am 30. November 1975 in Amsterdam, an ihrem gemeinsamen Geburtstag. Für eine Fernsehdoku, an der auch Ulay beteiligt war, hatte Abramovic eine Performance aufgeführt, bei der sie sich selbst gezielt verletzte. Am Ende lag sie verletzt und erschöpft am Boden. Irgendwann betrat Ulay den Raum, sah sie und versorgte ihre Wunden.
Reinszenierte Performances
Die Schau umfasst nicht nur Dokumentationen von Performances Abramovics aus allen Schaffensperioden, abgespielt auf Monitoren und in Videoprojektionen – für die frühe Zeit sind dies vornehmlich körnige Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Die Ausstellung reinszeniert auch einzelne historische Performances live – zum Beispiel gleich eingangs.
Dort stehen sich zwei nackte junge Menschen, ein Mann und eine Frau, als Stellvertreter für Abramovic und Ulay im Türrahmen gegenüber – so nah, dass der Besucher kaum in die Ausstellung gelangen kann, ohne Körperkontakt mit ihnen zu haben. In ihrer Performance »Imponderabilia« waren es 1977 Abramovic und Ulay selbst gewesen, die für die Besucher den Einlass zu einem Akt der Überwindung und gleichzeitig die Schwellenangst großer Teile der Gesellschaft gegenüber Kunstinstitutionen fühlbar machten. Die Inszenierung machte deutlich, in welchem Maß Performance eine Körperkunst ist. Nach etwa eineinhalb Stunden schritt die herbeigerufene Polizei ein.
Befreiung des Körpers
Auch schon vor ihrer Zeit mit Ulay hatte Abramovic in kräftezehrenden Langzeitperformances die Grenzen von Körper und Geist ausgetestet. Ob sie sich dabei buchstäblich – wie in einer Performance in Neapel 1974 – dem Publikum aussetzte, das sie mit Gegenständen traktierte und ihr mit Rasierklingen die Kleidung vom Leib schnitt, oder ob sie sich selbst verletzte, indem sie mit einem Messer ein gefährliches Spiel mit ihren Händen inszenierte, oder ob sie in einer weiteren Performance öffentlich die Wirkung von Psychopharmaka erprobte: Stets ging es dabei auch um ein Abstreifen des zivilisatorischen Korsetts, um eine Art Befreiung des Körpers in Extremsituationen.
Ausstellungsinfo
Die Retrospektive zu Marino Abramović ist am Kunsthaus Zürich bis 16. Februar zu sehen, Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, Donnerstag bis 20 Uhr. (GEA)
www.kunsthaus.ch
In einer Performance ohrfeigte sie sich schier endlos mit Ulay. Dass sie sich mitunter Gefahren, selbst des Todes, aussetzte – etwa als Ulay anhaltend einen Bogen mit auf ihr Herz gerichtetem Pfeil spannte –, verlieh ihren Performances etwas Existenzielles. Einmal vollzog Abramovic einen temporären gesellschaftlichen Rollentausch, ließ sich bei einer Ausstellung durch eine Prostituierte vertreten, während sie selbst sich im Amsterdamer Rotlichtviertel im Fenster einer Sexarbeiterin den Blicken möglicher Freier aussetzte.

»Das Publikum ist mein Spiegel«, sagte sie einmal. Umgekehrt galt der Satz: »Ich bin der Spiegel meines Publikums.« Die Performance, die ihr Weltruhm eintrug, war »The Artist is Present«. Der Titel enthielt schon das ganze Programm: Sie, die Künstlerin, war einfach nur da. Im Foyer des Museum of Modern Art in New York saß sie an einem Tisch, und jeder im Publikum konnte ihr, so lange er oder sie wollte, stumm gegenübersitzen und in die Augen schauen. Es war eine Art rituelle Rückführung menschlicher Existenz auf ihren elementaren Grund: auf das Gegenübersein, die Kommunikation mit anderen Menschen. Nicht wenigen »Mitspielern« kamen dabei früher oder später die Tränen. (GEA)