REUTLINGEN. »Jungs mit starker Stimme« - so hieß ein bundesweit viel beachtetes Pilotprojekt, welches der Landesmusikrat Hamburg vor exakt 20 Jahren ins Leben gerufen und damit einen wichtigen Stein ins Rollen gebracht hatte. Weil die Potenziale und Begabungen von Jungen auf geschlechterspezifische Weise zur Entfaltung gebracht werden müssen. Wofür ein Knabenchor eine ideale Basis ist. Denn Klischeebilder von »Männlichkeit« sind nach wie vor vielerorts im Umlauf; musisch-kulturelles Engagement gilt in Cliquen schnell als »uncool«.
Wie gut also, dass es die Capella Vocalis gibt. Wo die Jungen Selbstbestätigung erfahren, bei ihren Auftritten Selbstbewusstsein und sicheres Auftreten entwickeln. Solche »Jungs mit starker Stimme« müssen später nicht zuschlagen, um »wer« zu sein oder um ihr Selbstwertgefühl zu steigern. Ein Jungenchor ist ein hohes kulturpädagogisches Gut – vor allem einer auf solch beachtlichem musikalischem Niveau wie der in Reutlingen. Der bei seinem jüngsten Auftritt in der Wolfgangskirche auch eher selten zu hörende Kompositionen aufgeführt hat.
Glanzlichter aus Mozarts Salzburger Zeit
Glanzlichter aus Mozarts Salzburger Gebrauchsmusiken für den Gottesdienst beispielsweise. Die Knabenchoristen wählten sich ein »Laudate pueri« zum Einstieg. Und zeichneten schon im einleitenden Fugato klar die einzelnen Stimmen nach, die sich alsbald zu homogenem Mischklang verbanden. Die Linienführung geriet gut, die textbedingt gesetzten dynamischen Akzente ebenfalls. Ausgewogen auch die Klangbalance mit der kultivierten Instrumentalgruppe aus Konrad Balik und Lesia Ponomarova (Violine), Sigune Lauffer (Violoncello) sowie Andreas Dorfner an der Orgel.
Genauso gefiel das etwas bekanntere »Laudate Dominum« durch die chorische Ausgewogenheit. Und gab Anlass zu Bewunderung, dass auch der Solo-Sopran aus dem Ensemble heraus besetzt werden konnte. Simon Engel phrasierte ebenmäßig und ließ zugleich sein Bewusstsein dafür erkennen, wie die mezza di voce anzusetzen ist.
Hübsche Liebeslieder
Als sich Mozart anschickte, ins Opernfach einzusteigen, war er auf der Linie der Avantgardisten. Gleichwohl hatte auch für ihn noch der »Papst« der europäischen Operntexte, Pietro Metastasio, Ehrfurcht gebietende Autorität. Weswegen er einige hübsche Liebeslieder aus dessen Feder vertonte bis hin zum ironischen »Più non si trovano«, wonach man heutzutage eben keine treuen Frauen mehr finden würde. Da hat sich der junge Salzburger Kirchenmusiker schon einmal für seine späte Wiener »Così fan tutte« warmgelaufen. Die Capella Vocalis traf nach der sakralen Strenge der Vesper-Gesänge perfekt den Charakter dieser süßlichen Amouretten zwischen Verlangen, Trennungsschmerz und fernem Schmachten. Vorbildlich in Text- wie auch Ausdrucksgestaltung und behutsam von der im Chor aufgestellten Truhenorgel begleitet, nahmen sie sich dieser Raritäten an, verstanden sich auch auf Selbstkorrektur, wenn im akustisch heiklen Kirchenraum die Intonation am Abdriften war.
Für Haydns kleine Orgel-Solomesse ging es dann hinauf zur großen Orgel auf der Empore. Es spricht für das liturgische Bewusstsein, dass der auch in diesem Stück auf minutiöse Genauigkeit bedachte Chorleiter Benedikt Engel die Aufführung des Gloria in der Passionszeit aussparte. Das Kyrie erklang blitzsauber, kompakt und ausgewogen, wie auch das abschließende Agnus Dei, das als eindringliche Bitte um Frieden artikuliert wurde. Im Credo blieb das komplexe Stimmengeflecht durchhörbar und sinnfällig aufeinander bezogen. Hinsichtlich des Ausdrucks traf der Chor das Wunder der göttlichen Menschwerdung zum »Et incarnatus est« genauso glaubhaft wie das düstere »Crucifixus« mit tiefensicheren Bässen und den Auferstehungsjubel zum »Et resurrexit«. Und im Benedictus ließ Julian Lang im für ihn noch recht großen Solopart seine überdurchschnittliche Musikalität erkennen.
Detail, Spielwitz und Präzision
Mozarts »Abendruhe« schließlich wurde anrührend und voller Anmut in ihrer Schlichtheit gestaltet. Wie auch dessen »Ganz kleine Nachtmusik« zum Kabinettstückchen von Orgel und Streichtrio wurde: kultivierte Kammermusikdisziplin und Freude am Detail, Spielwitz, Eleganz und Präzision. Es muss also nicht immer KV 525 sein - auch in diesem Frühwerk finden sich Kostbarkeiten! (GEA)