REUTLINGEN. Zum Schluss ist alles fröhliche Kostümparty an Silvester mit der Jungen Sinfonie im Georgensaal. Musizierende Weihnachtsmänner, Piraten, venezianisch Maskierte. Das Haupt der Konzertmeisterin ist unter einer Pferdekopf-Haube verschwunden. Ein Rätsel, wie sie trotzdem die Töne trifft.
Dabei ist Leonard Bernsteins »Candide«-Ouvertüre selbst reine Maskerade. Musik, die sich alle paar Takte vergnügt ein neues Klangkostüm überstreift: Dixie-Marsch, höfischer Pomp, Slapstick-Parodie, gefühlvolle Musical-Schwelgerei. So farbensprühend, gewitzt und temperamentvoll legt die Junge Sinfonie das unter ihrem dirigierenden Urgestein Rainer M. Schmid hin, dass sich das Publikum im proppenvollen Saal prompt eine Wiederholung erklatscht. Da ist die eigentlich vorgesehene Zugabe – der Radetzky-Marsch, was sonst! – schon vorüber.
Atemlos fliegender Bach
So erwartbar ausgelassen gestalten die jungen Musiker jedoch nur die letzten Meter der Jahreszielgeraden. Davor lassen sie erst einmal jedes Feier-Klischee platzen. Schon Bachs drittes Brandenburgisches Konzert ist nur an der Oberfläche elegante Festmusik. Tatsächlich führt es den reinen Streicherapparat, der hier wirkt, ganz nonchalant in kühne kontrapunktische Verwicklungen. Die jungen Streicher behalten kühlen Kopf, lassen das Geflecht der Linien atemlos fliegen: schlank, durchsichtig, federnd, vorwärtsdrängend. Und doch ganz entspannt.
Etwas schade, dass man die lediglich zwei Töne des »Mittelsatzes« gerade so nimmt, wie sie dastehen – im Barock waren solche Stellen eigentlich immer das Signal für eigene Umspielungen. Dafür schwingt der Schlusssatz wunderbar dahin, hält die Spannung. Die Geigen glitzern, auch die Mittel- und Unterstimmen zeichnen ihre Linien prägnant.
Dann ist es erst mal vorbei mit der Feststimmung. Als falle der Blick auf all die Zweifel und Abgründe, die das ablaufende Jahr begleiteten. In Bartóks Bratschenkonzert, kurz vor seinem Tod 1945 im Exil komponiert, tastet sich die Solostimme wie eine verletzte Seele durch Hoffen und Bangen. Sebastian Steinhilber, einst selbst Teil des Orchesters, führt als Solist bewegend durch die drei verbundenen Sätze. Aufbegehren liegt in seinen Stakkati, seine hohen Kantilenen klingen strahlend und schmerzlich zugleich.
Der zweite Satz ist ein düster sinnender Monolog, von Steinhilber mit trauernder Intensität gefüllt, umwoben von dunklen Streicherbässen und Fagottklängen. Fast schon scheint es passend, dass sein einsames Klagen von Böllerschüssen draußen vor der Halle zerrissen wird. Das Finale rast als atemloser Tanz dahin; im furiosen Wirbeln des Solisten löst sich all das Dunkle und Bedrängende auf.
Atmende »Unvollendete«
Bartók und Schubert – sie könnten Seelenverwandte sein. Auch in Schuberts »Unvollendeter« ringen Lebensmut und Verzweiflung um die Vorherrschaft; die Böller, die helle Träume zerreißen, er hat sie förmlich in sein Werk integriert.
Rainer M. Schmid lässt dieses Drama aus einem getragenen und doch mit großer Spannung gestalteten Cello-Kontrabass-Grund aufsteigen; doch sobald die Geigen mit ihrer tremolierten Melodie einsetzen, treibt fiebrige Nervosität das Geschehen vorwärts. Stark, wie das Tempo in beiden Sätzen immer flexibel bleibt, wie es atmet, mal vorandrängt, mal innehält. Stark auch, wie das Orchester den Klang immer wieder in die durchsichtige Intimität eines kammermusikalischen Motivspiels führt, ehe das Tutti wie die Macht des Schicksals hereinbricht.
Große Sensibilität erfordern gerade diese zarten, freiliegenden Stellen – hier erlebt man sie berückend schön. Die Hörner mit ihren hauchzarten Bögen. Die weit ausgreifenden Soli von Klarinette und Oboe im zweiten Satz. Die Celli und Kontrabässe, die den Klang in eine schwarz ausgekleidete Stille führen. Selbstbewusste, tonstarke Bratschen. Scharf attackierende Trompeten, Posaunen, Pauken. Die Geigen, die auch unheimliches, fahles Zwielicht draufhaben. Glanz und Dunkel, Licht und Abgrund. Es kommt noch mal alles auf den Tisch an diesem Jahresende.
Aber dann darf gefeiert werden. Heraus mit den Kostümen, die Konfettikanone scharfgemacht, nun ist Party angesagt! Da kann sogar die Konzertmeisterin zum Pferd werden. (GEA)