REUTLINGEN. Es herrscht Partystimmung am Sonntagspätnachmittag im Kunstverein Reutlingen. Ein wuselndes Gewirr von Menschen, dazu elektronische Musik von Michael Miensopust – und dazwischen jede Menge fantasievoll bestückter Modepuppen als natürlicher Teil des Treibens.
Zum zweiten Mal gibt der Kunstverein mit seiner Leiterin Julia Berghoff in der Reihe »New and Coming« jungen Kreativen eine Plattform. In diesem Fall vier jungen Künstlerinnen und Künstlern aus Stuttgart, Mannheim, Hamburg und sogar Madrid. Ihre Arbeiten, in denen oft Textiles eine Rolle spielt, hat man ergänzt durch Mode- und Textilkollektionen von rund 20 Studierenden des Reutlinger Texoversums.
Dialog der Positionen
In der geräumigen Etage der Wandel-Hallen fließen beide Seiten ineinander. Ein Dialog entsteht zwischen den ästhetischen Positionen hier wie dort. Valentina Jaffé rollt lange Textilbahnen aus, erobert damit Boden und Wände. Die aus dunklen Tiefen leuchtenden Bilder von Janus Hochgesand aus zig Schichten reiner Farbpigmente haben ihrerseits eine fast textilähnliche Haptik, wie Berghoff in ihrer Einführung feststellt.
Die Pop-Art-inspirierten Malereien des Spaniers Fausto Amundarain zeigen eine Rasterstruktur, die mit gewebtem Stoff korrespondiert. Die fröhlichen Comic-Motive entpuppen sich indes beim zweiten Hinschauen als ätzende Zeitkritik.
Existenzbefragung in Textil
Eine regelrechte Existenzbefragung macht Clarissa Kassai aus dem Thema Textil. Aufgehängte Wäsche wird bei ihr zum Zeichen menschlicher Präsenz; eine leer sich drehende Wäschespinne in einem Holzverschlag wird zur symbolischen Vorhölle. Sich selbst fotografiert sie in einem neutralen Raum mit einem Stuhl und einem Kleidungsstück wie Elemente in einem metaphysischen Schachspiel. In einer auf Fotos dokumentierten Performance legt sie Stapel durchnässter Kleidungsstücke an Hauseingängen ab. Bäche rinnen aus den Textilien, in deren Fasern die Geschichte ihrer Träger steckt.
Die Textil- und Modekollektionen sind keinen Deut weniger eindringlich. Mit einer Kollektion, die an Gasmasken denken lässt, erinnern Clara Tan, Greta Jentschke und Henrie Kaufmann an die Rückkehr von Naziparolen im öffentlichen Raum. Katharina Fusseder verarbeitet die Dauerberieselung mit grausamen Nachrichten zu einem textilen Zirkus der Absurditäten. Und sie bannt Wirkung natürlicher Gerüche in speziell designten Textilbahnen. Während Yakup Yasin Keklik sich von der rauen Struktur von Krokodilhaut mit ihren Rissen, Brüchen und Schuppen inspirieren lässt.
Leid und Hoffnung
Jing-Jie Huang widmet seiner Mutter eine schwarze und eine weiße Kollektion als Zeichen von Leid und Hoffnung; in einer anderen greift er Farbe und Kuppelform des Berliner Reichtstags auf. Jelena Bozic krönt ihre Mutter symbolisch zur Königin und huldigt ihr mit einem netzartig-fragilen Kleid und getrockneten Blumen. Janina Röhrich füllt ganze Wände mit textilen Popsong-Texten und quirligen Patchwork-Motiven.
Ausstellungsinfo
Die Ausstellung "New & Coming – Fashion Edition" ist im Kunstverein Reutlingen in den Wandel-Hallen, Eberhardstraße 14, bis 2. November zu sehen, Mittwoch bis Freitag 14 bis 18 Uhr, Samstag, Sonn- und Feiertag 11 bis 17 Uhr. Am Samstag, 12. Juli, ist von 16 bis 21 Uhrdas Sommerfest "Open Wandel-Hallen" bei freiem Eintritt. (GEA)
www.kunstverein-reutlingen.de
Bei Johanna-Magdalena Knürr wird Mode zum Appell sozialen Zusammenhalts, mit Herzformen und einem textilen »Auffangnetz«. Alessa Keppler macht die unsichtbaren Bänder zwischen Menschen sichtbar, indem sie Textilbänder von Wellen drapiert und daraus ein Kleid kreiert. Den Ideen sind kaum Grenzen gesetzt, doch im Zentrum steht auf beiden Seiten der Mensch mit seinen Sehnsüchten und Ängsten, seiner Fantasie. (GEA)