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John Wyttmark: Biografie eines Schwabens über Weg in den Massenmord

John Wyttmark entrollt den Vernichtungswahn der Nazis anhand der Biografie des Schwaben Christian Wirth.

»Mauer der Namen« im Pariser Holocaust-Museum mit den Namen von 76.000 Juden, die in Lagern in Auschwitz, Sobibor und Majdanek e
»Mauer der Namen« im Pariser Holocaust-Museum mit den Namen von 76.000 Juden, die in Lagern in Auschwitz, Sobibor und Majdanek ermordert wurden. FOTO: MEMORIAL DE LA SHOAH
»Mauer der Namen« im Pariser Holocaust-Museum mit den Namen von 76.000 Juden, die in Lagern in Auschwitz, Sobibor und Majdanek ermordert wurden. FOTO: MEMORIAL DE LA SHOAH

GRAFENECK/LUBLIN. Der Holocaust und die Euthanasiemorde der Nationalsozialisten sind ein so monströser Bruch mit der Menschenwürde, dass jeder Versuch, sie in Worte zu fassen, in einen Zwiespalt führt. So ergeht es auch dem Autor John Wyttmark, spezialisiert auf historische Stoffe. Den Vernichtungsfeldzug der Nazis gegen Juden und Menschen mit Behinderung in seiner unfassbaren Menschenverachtung entrollt er anhand der Biografie des in Balzheim bei Laupheim geborenen Christian Wirth.

Wirth ist keiner der prominenten Nazi-Granden wie Heinrich Himmler, Adolf Eichmann oder Reinhard Heydrich, die sich im Glanz des Führers sonnten und fürstengleich Hof hielten. Sondern der Mann fürs Grobe, der vor Ort dafür sorgte, dass die Maschinerie der Vernichtung von Menschenleben mit gnadenloser Effizienz am Laufen blieb.

Was der Grund ist, weshalb Wyttmark gerade ihn gewählt hat. Wirth hat vor Ort Abertausende ins Gas geschickt, Männer, Frauen, Kinder. Wie wird einer zum gefühllosen Vernichter, der zuvor Jahre ein bürgerliches Leben als Polizist und Kriminalkommissar geführt hat?

Womit man beim ersten Zwiespalt des Buches ist. Wyttmark will jede Identifikation mit seiner Hauptfigur vermeiden, er beschreibt sie mit Distanz, ja Abscheu. Was dazu führt, dass Wirth als Charakter eindimensional bleibt.

Vom Polizisten zum Mörder

Was die zweimal vierhundert Seiten der beiden Bände jedoch minutiös nachvollziehbar machen, ist der Weg in den Vernichtungs-Exzess. Christian Wirth, der den Ersten Weltkrieg als Frontsoldat mitmacht, ist danach erst einfacher Polizist, bringt es aber bis zum Kriminalkommissar. 1939 wird ihm von den Nazis die organisatorische Verantwortung für die Euthanasie-Tötungsanstalt in Grafeneck übertragen. Er ist es, der die Mordmaschinerie dort absichert und organisatorisch am Laufen hält. Seine hier und später in Pirna-Sonnenstein gewonnenen Erfahrungen machen ihn zum Experten in Sachen industriell organisiertem Massenmord. Er wird diese Erfahrungen später beim Aufbau der Vernichtungslager Belsec, Treblinka und Sobibor im besetzten Polen einsetzen, das massenhafte Morden immer weiter perfektionieren.

Suche nach Sündenböcken

Deutlich werden an Wirths Lebensweg die Wurzeln des Massenmords. Wie sich aus der Katastrophe des Ersten Weltkriegs heraus das Wahngebilde zusammenbraut, der Krieg sei nur wegen der schwächenden Elemente an der Heimatfront verloren worden. Als die schnell zwei Gruppen ausgemacht sind: Menschen mit psychischen und kognitiven Einschränkungen sowie der Standard-Sündenbock seit Mittelalterzeiten, die Juden. Wyttmark verdeutlicht, dass sich die Vernichtungswut des Naziregimes nicht zufällig an diesen beiden Gruppen entlädt; und nicht zufällig exakt vom Kriegsbeginn an.

John Wyttmark: Der Vernichter, historischer Roman, 2 Bände, 417 und 410 Seiten, je 16,90 Euro, Sparkys Edition Verlag, Kirchheim
John Wyttmark: Der Vernichter, historischer Roman, 2 Bände, 417 und 410 Seiten, je 16,90 Euro, Sparkys Edition Verlag, Kirchheim/Teck. Foto: Pr Public Relations
John Wyttmark: Der Vernichter, historischer Roman, 2 Bände, 417 und 410 Seiten, je 16,90 Euro, Sparkys Edition Verlag, Kirchheim/Teck.
Foto: Pr Public Relations

Anhand von Wirths Biografie macht Wyttmark auch klar, dass dem Vernichtungs-Exzess eine schleichende Verrohung vorausging. Zunächst in der Sprache, als von »unnützen Essern« die Rede ist in Bezug auf Menschen mit Behinderung. Jüdische Menschen werden verbal erst als gefährlich, verräterisch und minderwertig geschildert, dann auf die Ebene von Tieren gestellt und schließlich auf die von Sachen – der Mensch als Abfall.

Das ist beklemmend, weil solche Prozesse sprachlicher Verrohung und Entmenschlichung auch heute zu beobachten sind. Sei es, dass Migranten von US-Präsident Donald Trump mit Tieren gleichgestellt werden. Oder dass bei rechtspopulistischen deutschen Politikern Migranten als »Kopftuchmädchen« und »Messermänner« firmieren, was erneut Menschen auf Dinge reduziert.

Organisation der Vernichtung

Klar wird in allen Einzelheiten auch, wie die Vernichtungsmaschinerie sich selbst organisierte. Wie die »Kanzlei des Führers«, zunächst nur für Gnadengesuche zuständig, zur Ausdehnung ihres Machtbereichs die Organisation der Euthanasiemorde an sich zieht. Und sich später auch in der Judenvernichtung als Schaltzentrale in Stellung bringt. Klar werden die Rivalitäten einzelner Stellen, das Gerangel um die Führergunst, die Deals zwischen Führerkanzlei, Himmlers SS und dem Reichssicherheitshauptamt, um die Judenvernichtung auf den Weg zu bringen. Und schließlich die Rolle des berüchtigten Amts »T4« an der Tiergartenstraße, wo alle Fäden der Mordmaschinerie zusammenlaufen.

Herren über Leben und Tod

Deutlich wird zudem, was Hitlers Schergen antreibt: Für Wirth ist es die Chance, vom unbedeutenden Schutzpolizisten zum unentbehrlichen Mordwerkzeug des Führers aufzusteigen. Andere schaffen sich durch die Realisierung von Hitlers Wahnideen absolute Machtrefugien, in denen sie Herr über Leben und Tod sind. So Hans Frank, der »Schlächter von Polen«, als Gouverneur des »Generalgouvernements«, sprich der besetzten polnischen Gebiete. Oder Wirths direkter Partner im Vernichtungsfeldzug. Odilo Globocnik, der als Gauleiter im Bezirk Lublin ein Willkür-Regime aufzieht.

Wyttmark will jedoch keine Täterberichterstattung machen. Daher stellt er dem Bericht über das Wirken Wirths Szenen aus der Sicht einzelner Opfer gegenüber. So schonungslos er das Wirken der Schlächter darlegt, so einfühlsam erzählt Wyttmark das Schicksal dieser Menschen. Dafür braucht er erzählerische Freiheit – weshalb er das Ganze als »historischen Roman« bezeichnet.

Empfohlen erst ab 18 Jahren

Das ist einleuchtend, andererseits aber auch wieder irreführend. Denn es suggeriert, dass die Vorgänge insgesamt einen fiktiven Anteil enthalten. Von den eingeschobenen Szenen aus Opfersicht abgesehen ist dem aber nicht so. Wyttmark selbst belegt durch zahllose Quellen und Zeugenaussagen, dass sich die Dinge genau so zugetragen haben.

Genau das macht letztlich auch die Relevanz dieser beiden Bände aus. Das Ungeheuerliche ist tatsächlich passiert. Sich als Leser damit zu konfrontieren, es sich in allen grausigen Einzelheiten zu vergegenwärtigen, ist schwierig und belastend, der Autor empfiehlt die Lektüre daher auch erst ab 18 Jahren.

Und doch ist es wichtig, gerade jetzt, wo es im öffentlichen Diskurs wieder als vordringliche Staatsaufgabe gehandelt wird, sich bestimmter Bevölkerungsgruppen möglichst effizient zu entledigen, Stichwort »Abschiebezahlen«. Denn die Auseinandersetzung mit diesem Kapitel der Geschichte macht klar: Die größte Gefahr für eine Gesellschaft droht nicht von Asylbewerbern und Migranten, sondern von einem Klima, in dem es möglich wird, die Axt an die Menschenwürde zu legen. (GEA)