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Aktuell Schlager

Jeder Mensch braucht Rituale

REUTLINGEN. Der Großmeister des schön nachgesungenen Schlagers hatte wieder Schichtbeginn. Dieter Thomas Kuhn ist ab sofort auf Tour, am Freitagabend in Reutlingen gab es ein Beinahe-Heimspiel-Konzert zum Warmwerden. Wie heißt die aktuelle Sommerreise doch gleich? Komplett irrelevant, eigentlich. Aber hier, fürs Protokoll: »Im Auftrag der Liebe - Teil 2«.Und selbstverständlich ist alles genau so, wie es sein muss und immer ist.

Eine Welle Off-Season-Fasching überrollt am sommerlichen Abend die Reutlinger Altstadt; überall wandeln und kichern vorfrohe Menschen mit Blumenkränzchen und Plateausohlen, mit Sonnenblumen-Installationen an Haupt und Leib oder in Nylon gewordenen Seventies-Farbschocks. Man weiß genau, wie der Schweiß riechen wird, schon bevor sie an einem vorbeigelaufen sind. Auch Rudelverkleiden ist große Mode. Mallorcaesk gestimmte Männergrüppchen tragen das Rudel-Rüschenhemd in allen Regenbogenfarben. Nicht mehr teenageralterige Frauen erleben teenagerähnliche Glückszustände, während sie einander ihre liebevoll aufgeblümten Monturen vorführen. Allein für diese Warteschlange, die sich weit über den Vorplatz der Reutlinger Stadthalle windet, würde man willig Eintritt zahlen.

Zur Schlagerparty verabredet

Drinnen geht das große Glück grad weiter: alle friedlich, alle gut gelaunt. Die Feierlaune ist lange vor dem ersten Ton schon auf so einem Level, dass Ketzer fragen könnten, ob es die Livemusik überhaupt noch braucht. Mit dem ersten Ton zwei Erkenntnisse: Erstens wäre Gotthilf Fischer grün vor Neid über diese Chorleistungen. Zweitens ist dieses Konzert die Hölle für Ohren. Das gilt, persönlich getestet, fast überall in der Halle. Es ist derart zu laut, dass sich manche Bonbonpapier ins Ohr stopfen. Leider taugt dazu noch der Sound nix: klirrend, zugleich matschig, und was der Herr Kuhn da singt, versteht beim besten Willen keiner. Zum Glück können eh alle alles auswendig. Der Partystimmung tut der Ohrenterror keinen Abbruch.Denn selbstverständlich führen Kuhn und seine sieben bunten Band-Mannen auch in der neuen Sommerschicht quasi dasselbe auf wie immer. Jeder Mensch braucht ja Rituale, und diese Band und dieses Publikum sind für exakt diese Schlagerparty verabredet, vor einer Bühne mit bunter Love-Peace-Deko. Und los: Schön ist es auf der Welt zu sein. Griechischer Wein. Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben. Ich war noch niemals in New York. Am Tag als Conny Kramer starb. Der Junge mit der Mundharmonika. Über den Wolken. Dschingis Khan. Über sieben Brücken musst du gehen. Im Wagen vor mir fährt ein kleines Mädchen. Zum Schluss gab es ein paar äußerst rührende Momente: Für immer und dich.Kuhn singt, wie immer, nicht permanent richtig, aber mit Inbrunst. Und die Inszenierung kommt von Herzen, obgleich sie ausgesprochen routiniert daherflutscht. Bei den Herren von der Band vermutet man unter den Glitzerhosen äußerst attraktive Wadenmuskeln, so emsig, wie sie ihre Choreografien trippeln. Man möchte ihnen stellenweise ein bisschen Magnesium zustecken. Das Finale könnte furioser kaum sein, pyrotechnisch aufgedonnert und dann mit Laser-Herzchen-Projektionen sphärisch entrückt. Gegen Ende greift der Schlager-Zeremonienmeister noch einmal zum Mikrofon: »Und ich frage euch: Wollen wir zusammen alt werden? Ich würde mich freuen!« Den 1 800 Leuten in der ausverkauften Halle scheint es ähnlich zu gehen. Dieses Ritual zu ersetzen dürfte auch echt schwierig werden. (GEA)