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Aktuell INTERVIEW

Jazz-Star Jamie Cullum spricht über Musik und Familie

Foto: nicht angegeben
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LONDON. Er braucht nur 1,64 Meter, um eine echte Sangesgröße zu sein: Die Rede ist von Jamie Cullum. Der Brite, dessen Mutter aus Burma stammt und dessen Großmutter in Deutschland lebte, ist einer der erfolgreichsten Jazzmusiker aller Zeiten – und verheiratet mit Sophie Dahl, millionenschwere Erbin von Kultautor Roald Dahl und Ex von Mick Jagger. Cullum (44) ist ein wahres Multitalent und begleitet sich selbst am Klavier, an der Gitarre oder am Schlagzeug. Seine Coverversionen setzen ganz eigene Akzente.

GEA: Machen Sie einen Unterschied zwischen der Bühne und dem wirklichen Leben?

Cullum: Ich habe auch ein ganz normales häusliches Leben, in dem ich den Kids helfen muss, zur Schule zu gehen. Ich muss mich um mein Haus, die Regenrinne, das Dach und auch um meinen Job kümmern. Und dann findest du dich plötzlich am Flughafen wieder in einem Tourbus mit sechs deiner besten Freunde, die in eine coole Stadt fahren, um auf einem Festival Musik zu machen. Das ist etwas völlig anderes. Das eine Leben ist auf jeden Fall viel härter als das andere. Aber ich werde Ihnen nicht sagen, welches. (lacht)

Welche Rolle spielen Improvisation und Kreativität bei Ihren Shows?

Cullum: Eine zentrale. Ich stecke nicht nur tief in den Songs, die wir spielen, sondern auch in den vielen Open-Space-Improvisationen, weil sie in der Welt des Jazz angesiedelt sind. Außerdem mag ich es, Dinge in der Setlist zu verändern. Es gibt nicht viele Musiker, die eine Setlist haben, die sich von Abend zu Abend ändern kann. Manchmal ändere ich auch etwas spontan auf der Bühne. Ich mag es, die Dinge im Fluss zu halten.

Wie viele Ihrer rund 150 Songs kennen Sie eigentlich auswendig?

Cullum: Ich würde sagen, ich könnte mich durch hundert von ihnen wurschteln, denn ich habe meine Wurzeln als Cocktailbar-Pianist in Hochzeitsbands. Manchmal kam ein Gast um zwei Uhr nachts zu mir und fragte, ob ich irgendeinen obskuren Frank-Sinatra-Song spielen könne. Ja, das konnte ich. Das gehört zu den Fähigkeiten eines Jazzmusikers. Wenn man sich einmal aufgenommene Dinge grob im Kopf merkt, kann man sie irgendwie spontan ausarbeiten. Aber ob ich das dann gut machen würde, weiß ich nicht.

Bei Ihren Konzerten machen Sie immer einen relativ entspannten Eindruck. Täuscht das?

Cullum: Ich bemühe mich zumindest, relaxt zu sein. Und ich bin auch sehr neugierig. Mit dem Online-Leben habe ich jedoch nicht viel zu tun. Viele der ängstlichsten Menschen, die ich kenne, sind die ganze Zeit online und lesen ständig die Nachrichten in den sozialen Medien. Mein Gehirn funktioniert nicht so. Ich bin ein Mono-Tasking-Typ und kann ärgerlicherweise keine zwei Sachen gleichzeitig erledigen. Ich mache ganz altmodische Dinge wie ein Buch lesen oder ganze Platten hören.

Cineasten lieben Ihren Song »Gran Torino«, den Sie für Clint Eastwoods gleichnamigen Film geschrieben haben. Singen Sie den Titel auf Tour?

Cullum: Ich habe eine lange Liste mit allen Songs geschrieben, die ich auf dieser Tournee ausprobieren möchte. Und »Gran Torino« ist einer von ihnen. In den letzten zwölf Jahren habe ich viele Shows mit dieser Nummer beendet. Vielleicht werde ich damit experimentieren und sie mehr in die Mitte legen, mal sehen.

Wie war es, mit Clint Eastwood Musik zu schreiben?

Cullum: Die Vorstellung war zuerst einmal surreal, mit ihm und für ihn Musik zu machen. Aber in der Praxis war Clint Eastwood so relaxt und so ein Fan von Musik, dass sich die ganze Sache wirklich zwanglos anfühlte. Sich neben ihn auf die Klavierbank zu setzen, während wir den Song in seinem Haus in Los Angeles aufnahmen, fühlte sich sehr normal an. Wir haben zusammen gefrühstückt, zu Mittag und zu Abend gegessen. Ich habe noch nicht viele Hollywoodstars getroffen, aber Sie würden nicht glauben, wie unaufdringlich Clint Eastwood ist.

Seit April 2010 moderieren Sie wöchentlich eine Jazzsendung auf BBC. Ist das so, weil Sie auch heute noch ein Musikfan sind?

Cullum: Ja. Es gibt viele Gründe für mich, eine Radiosendung zu machen. Das ist nichts, was man wegen des Geldes tut. Ich habe hier die Möglichkeit, ein großes Publikum mit Musik zu erreichen, die nicht unbedingt immer eine Plattform hat. Das finde ich auch für meine eigene Musik sehr befruchtend. Ich liebe die Tatsache, dass die Radiosendung jede Woche stattfindet und sich so anfühlt, als wäre es das, was einem richtigen Job am nächsten kommt, den ich nie hatte.

Sie sind ein großer Freund von Vinyl. Legen Sie in Ihrer BBC-Sendung Platten aus Ihrer eigenen Sammlung auf?

Cullum: Ja, ziemlich oft. Ich gehöre auch zu den Verrückten, die darauf achten, dass immer die Datei mit der höchsten Qualität auf dem System ist. In meiner Sendung gibt es deshalb keine MP3s. Ich habe eine große Vinyl-Sammlung und weiß, dass es eine Freude ist, Platten abzuspielen. Heutzutage ist das Sammeln von Vinyl sehr trendy, man braucht eine Kollektion im Hintergrund in seinen Instagram-Posts. Ich habe aber schon zu einer Zeit Vinyl gesammelt, als die Leute ihre Scheiben loswerden wollten. Der Vater eines Freundes zum Beispiel schenkte mir seine gesamte Jazz-Sammlung, weil er alles auf CD umstellte. Dazu gehörte der komplette Miles-Davis-Katalog auf Columbia Records. Ich versuche heutzutage nicht mehr, um des Sammelns willen zu sammeln, denn das würde mein ganzes Leben in Anspruch nehmen. (lacht)

Was passiert mit der Kreativität des Künstlers, wenn das Format Album mit seinen grenzenlosen Möglichkeiten nicht überlebt?

Cullum: Alben haben heute ein kleineres Publikum, die Mehrheit ist im Allgemeinen mehr an kürzeren Inhalten interessiert. Andererseits gibt es auch Podcasts, die drei, vier Stunden dauern und gehört werden. Viele Künstler machen immer noch lange und wirklich großartige Alben, und es gibt ein Publikum dafür. Das Format wird überleben, denn die Künstler müssen überleben. Um einen großartigen Track zu machen, muss man ein ganzes Werk erschaffen. Und dieser eine, großartige Track fühlt sich besser an, weil er von anderen tollen Tracks umgeben ist. Kreativität ist ein zentraler Teil dessen ist, was uns zu Menschen macht. Solange es sie gibt, wird es auch längere Formen von allem geben. (GEA)