BERLIN. Was für ein Werk! Und ein Solitär in der Musikgeschichte obendrein. 1904 spielte der Komponist und Pianist Ferruccio Busoni den Solopart seines Klavierkonzerts op. 39, gemeinsam mit den Berliner Philharmonikern. Doch was heißt hier »Klavierkonzert«? Schon der Umfang lässt die bis dato gängigen Beiträge zu dieser Werkgattung weit hinter sich. Fünf Sätze statt der üblichen drei werden in eine komplex angelegte Bogenform gegossen, 70 Minuten Spieldauer sind gefordert, und zum opulent besetzten Orchester gesellt sich im Finale noch ein Männerchor, dessen Text dem Stück noch die weltumspannend-kunstreligiöse Weihe verleiht.
Kein Wunder, dass sich kaum ein Pianist, Dirigent oder Orchester an dieses Monstrum heranwagen. Selbst die Berliner Philharmoniker haben es zuletzt 1921, abermals mit Busoni am Klavier, gespielt. Und nun, im 100. Todesjahr des Komponisten, wieder zur Aufführung gebracht. Was der Solist Kirill Gerstein und Dirigent Sakari Oramo hier boten, war überwältigend. Mit großer Pranke stieg der Pianist in die Akkordkaskaden des erkennbar Tschaikowskys erstem Klavierkonzert nachempfundenen Eingangs-Allegro ein, verfiel jedoch nie in oberflächlichen Tastendonner. Wo hat dieser Mann bloß die Energie her, um fast die gesamte erste Hälfte hindurch kontinuierlich Funken sprühen zu lassen, rasante Läufe in Brillanz zu verwandeln, um dann im dritten Satz, einem Andante sostenuto, dem Flügel klangsinnliche Verhaltenheit zu entlocken? Doch dieser Ruhepunkt währt nicht allzu lange – schon der vierte Satz, eine Tarantella, verlangt geradezu vulkanische Raserei. Dass die Illustration für das Titelblatt der Erstausgabe den Vesuv zeigt, ist kein Zufall.
Hingebungsvolles Englischhorn-Solo
Und die Berliner Philharmoniker unter Sakari Oramo brachten den ganzen Kosmos dieses Werkes zum Klingen, erschlossen es mit ungeheurer Intensität, geradezu unter Starkstrom. Flankiert vom kompetenten Rundfunkchor Berlin in der Einstudierung von Gijs Leenaars. Zuvor erklangen Debussys »Trois Nocturnes«. Hauchzarte Streicher zauberten schon im ersten Satz feinste Nuancen, vom hingebungsvoll melancholischen Englischhorn-Solo aufgegriffen und buttrig vom Hörnerquartett abschattiert. Im finalen Sirènes gab es wahrhafte »Sirenenklänge« zu hören; die Vokalisen des Frauenchors im harfenumrauschten Orchesterglanz waren eine Kostbarkeit. Und die Spielvorschrift Animé et très rhythmé wurde von Oramo und den Philharmonikern wörtlich genommen, als die Harfe perkussiv einen Marsch begonnen hat, der sich zündend über das ganze Orchester hin ausbreitete. Ottorino Respighi wird später in »Pini di Roma« seine Lehren daraus zu ziehen wissen.
Dieser Meister der klassischen Moderne Italiens stand anderntags in der Deutschen Oper Berlin auf dem Spielplan: seine letzte vollendete Oper »La Fiamma« - »Die Flamme«. Sie entstand 1933 und beruht auf der wahren Begebenheit eines Hexenprozesses von 1575. Doch die menschliche Tragödie mit ihren Leidenschaften zwischen Liebe und Hass in einem fanatisierten Umfeld hätte sich genauso in einer Familie zur Zeit Respighis wie auch noch heute abspielen können.
Spannendes Musiktheater
Regisseur Christoph Loy erbrachte gemeinsam mit seinem Team den Beweis, dass es weder aufgesetzter Mätzchen noch abstruser Verfremdungseffekte bedarf, um im zeitlos neutralen Bühnenrahmen von Herbert Murauer und in den geschmackvoll- schlichten Kostümen von Barbara Drosihn spannendes Musiktheater zu machen.
Respighis Oper sieht gleich zwei bedeutungsvolle Mezzosopran-Partien vor, deren eine die Altmeisterin dieses Stimmfachs, Doris Soffel, großvolumig und intensiv nachzeichnete. Martina Serafin brachte die andere zum raumgreifenden Klingen. Olesya Golovneva gestaltete ergreifend mit allen Facetten die zentrale Sopran-Partie, Georgy Vasiliev war ihr ein heldisch-tenoraler Bühnen-Liebhaber, und Ivan Inverardi sang ihren ungeliebten alten Ehemann mit dominanter Wucht. Auch die zahlreichen weiteren Partien waren auf hohem Niveau besetzt. Zudem fordert Respighi großen Kinder- und gemischten Chor, in Berlin von Jeremy Bines und Christian Lindhorst hervorragend einstudiert.
Flamboyante Musik
Dirigent Carlo Rizzi war der perfekte Anwalt für Respighis flamboyante Musik, die auf faszinierende Weise aus dem Vollen der Musikgeschichte schöpft, ohne epigonal zu sein. Seine Tonsprache spannt den Bogen vom Gregorianischen Choral bis zu Strauss' klanglicher Opulenz, wobei er das groß besetzte Orchester über die meiste Zeit hin transparent führt, subtil die Gemütslage und Stimmungen der Figuren reflektierend. Seit 1936 ist dieses überwältigende Meisterwerk nicht mehr in Deutschland zu sehen gewesen – es wurde wieder einmal Zeit! (GEA)
Mitschnitt des Konzerts der Berliner Philharmoniker im Archiv von digitalconcerthall.com.

