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»In Mozarts Musik spiegelt sich Güte«

REUTLINGEN.Ein »Besessener«, ein »Charakterkopf, wie er nur selten in der Klassik zu finden ist«, wird Fazil Say gern genannt – und doch hat der Pianist weit mehr zu bieten als solche Klischees. So gehört er zur heute eigentlich längst ausgestorbenen Linie der Klaviervirtuosen, die auch komponieren. Obendrein erhebt er politisch seine Stimme für Demokratie und Menschenrechte in der Türkei. Wenngleich der 46-Jährige sich nach seiner Verurteilung 2013 durch ein Gericht in Istanbul wegen Blasphemie derzeit mit kritischen Äußerungen über die türkische Regierung lieber zurückhält. Christoph Forsthoff hat mit Fazil Say gesprochen, der am kommenden Montag mit der Württembergischen Philharmonie im ausverkauften Sinfoniekonzert in der Stadthalle auftritt.



GEA: In Sachen Politik gehören Sie zu den Künstlern, die recht klar Stellung beziehen – andere Musiker sind da deutlich zurückhaltender und verweisen darauf, dass Klassik nichts mit Politik zu tun habe. Wie sehen Sie das?

Fazil Say: Beides gehört zum Leben – überall auf der Welt. Wenn etwa der Hamburger Bürgermeister plötzlich die dortige Oper schließen möchte, dann werden auch dort alle Kulturschaffenden und -interessierten politisch und sich dagegen wehren: Dann müssen sie Politik machen. Natürlich denken wir nicht an die Politik der CDU, wenn wir eine Mozart-Sonate spielen, aber in einem Künstler sollte Raum für beides sein und auch eine Brücke zwischen beidem existieren – wenngleich diese meistens bei negativen Fällen offenbar wird.



Manchen scheint es, als werde in der Türkei derzeit das alte Gegensatzpaar Orient und Okzident neu belebt.

Say: Ich selbst bin mehr okzidental aufgewachsen, geprägt durch mein Elternhaus wie auch das Konservatorium in Ankara und mein Leben in Deutschland und den USA. Insofern bin ich ein sehr westlicher Mensch, doch die Kulturen vermischen sich immer mehr, weil auch die Menschen sich immer mehr vermischen. Wir sollten diese Brücken weiter ausbauen und eine größere Aufgeschlossenheit für andere Kulturen entwickeln.



Welche Rolle spielt dabei der Glauben?

Say: Ich selbst bin nicht religiös, aber Glauben gehört zum Leben, zur Musik und uns Menschen. An irgendetwas glaubt jeder von uns – ob es nun die Liebe, die Musik oder das Universum ist. Religion aber ist vom Menschen gemacht, und wie wir immer wieder sehen, hat die Menschheit Probleme mit den großen drei Religionen. Ich glaube lieber an die wissenschaftlichen Wahrheiten.

Und zweifellos an die musikalischen – und das schon seit frühester Kindheit an. Waren Sie ein Wunderkind?

Say: Was ist ein Wunderkind? Jemand, der uns mit seinem Schaffen sehr überrascht und schon in seiner Kindheit ein überragendes, ja vielleicht sogar übermenschliches Können beweist, das den Menschen zugutekommt. Ob ich ein Wunderkind war? Das weiß ich nicht … ich habe mit drei Jahren angefangen, Klavier zu spielen und einfache Stücke zu komponieren – ob das ein Wunderkind macht, das müssen andere beurteilen.

Ein Wunderkind war zweifellos Mozart, dem auch Sie sich immer wieder widmen, wie jetzt bei Ihrem Konzert mit der Württembergischen Philharmonie.

Say: Für mich war er ein Jahrtausendgenie, dessen Schaffen die Menschheit in ihrer Gänze repräsentiert. Ein Vorbild für Schönheit und einen produktiven Menschen. In seiner Musik spiegelt sich die menschliche Güte – und das macht diese Musik einzigartig.



So wie er einst als Klaviervirtuose begeisterte und selbst Werke schrieb, verfolgen auch Sie beide Wege und komponieren als einer der wenigen Pianisten des 21. Jahrhunderts auch.

Say: Was nach dem 19. Jahrhundert klingt, denn im 20. Jahrhundert hat man von den Pianisten zunehmend technische Perfektion verlangt und das Komponieren oder auch Ausflüge in den Jazz zu etwas Abwegigem erklärt. Was dazu geführt hat, dass viele Pianisten sich selbst begrenzt haben – dabei braucht ein Musiker doch viel Kreativität! Als komponierender Pianist habe ich den Vorteil, dass ich meine eigenen Werke spielen kann – und das gefällt dem Publikum.

Zwiegespalten sind die Besucher ob ihrer ausgeprägten Mimik und Gestik bei Ihren Auftritten als Pianist im Konzert – ist die wirklich nötig?

Say: Jeder Musiker sucht doch die Geschichte hinter den Tönen – die reinen Töne machen gerade mal 20 Prozent aus! Wir würden uns zu Tode langweilen bei einer von einem Computer gespielten Mozart-Sonate. Erst das eigene Spiel macht mehr daraus – und welche Pantomimen oder Gesichter wir dabei ziehen, merken wir nicht.

Sie bekommen davon rein gar nichts mit?

Say: Als ich mich das erste Mal im Fernsehen gesehen und so richtig wahrgenommen habe, hat mich das auch gestört. Andererseits: Das Klavier ist nun mal ein Perkussionsinstrument, und um dieses zum Singen zu bringen, muss man sehr viel tun – und manchmal gehört da selbst das eigene Mitsingen dazu.

Was andererseits wiederum gar trefflich in die Welt der Neuen Medien passt, wo ja nicht zuletzt die Selbstdarstellung ein entscheidendes Erfolgsmoment ist.

Say: Auf meiner Facebook-Seite kündigen wir meine Konzerte an, berichten von Proben oder verlinken zu vergangenen Auftritten in der Sprache des jeweiligen Landes – und diskutieren natürlich auch mit den Usern. Wenn wir auf Youtube Auftritte von mir verlinken, wird das von einer halben Million Menschen verfolgt – wie auch meine Essays über Musik, Gedanken zur Kultur oder Politik.

Zweifellos beeindruckende Zahlen für den Klassikbereich…

Say: … und auf Twitter habe ich mehr als 487 000 Follower, auf Facebook mehr als 640 000 Fans. Da fühle ich mich fast wie ein Verleger und das nutze ich, um kulturelle Informationen zu verbreiten, die in den normalen Zeitungen und Fernsehsendern nicht laufen. (GEA)