REUTLINGEN. Sie hat sich als eines der wichtigen Foren der regionalen Kunstszene etabliert: die Galerie im Gewölbe im Untergeschoss der Buchhandlung Osiander. 2010 öffnete sie mit einer Ausstellung von Barbara Wünsche-Kehle. Für 68 Ausstellung boten die beiden Gewölbekammern seither den Rahmen, wie Ingrid Haap anmerkte, die all die Jahre die treibende Kraft hinter der Galerie war.
Nun schließt sich der Kreis. Neun Jahre nach dem Start der Galerie ist Wünsche-Kehle mit neuen Arbeiten zurück im Doppelgewölbe. Das hat sich seither verändert. Die Wände sind weiß gestrichen, feste Aufhängschienen sind angebracht, der Fußboden ist, Vermächtnis einer der Ausstellungen, mit Kies bedeckt, der unter den Füßen knirscht. Er gibt den Räumen etwas Naturhaftes und gleichzeitig Abstraktes.
Genau diese Doppeldeutigkeit verlängert Barbara Wünsche-Kehle sozusagen in die Luft. Viele ihrer Arbeiten hängen frei in der Luft oder »schweben« vor weißen Flächen aus Karton oder Papier. Objekte aus Draht und Seidenpapier sind es, wobei der feine Draht sozusagen Linien in den Raum zeichnet und das dazwischen befestigte Seidenpapier seinerseits Flächen im Raum aufspannt.
Zeichnungen im Raum
Im Grunde ist das ein abstraktes Zeichnen im Raum, Haap hat das in ihrer Einführung treffend herausgearbeitet. Ein Zeichnen, das von einer zurückgenommen Palette lebt. Von der Anmutung der Schwerelosigkeit. Von der Durchlässigkeit für Licht und Luft. Die Öffnungen sind für Wünsche-Kehles Objekte so grundlegend wie die Flächen. Selbst diese, in Gestalt zarter Seidenpapierschichten, scheinen Licht und Luft viel eher einzusammeln, durchzulassen, weiterzuleiten als sie abzublocken.
Tatsächlich gibt es viele Arbeiten, die sehr poetisch mit diesem Dialog von offen und verschlossen, Fläche und Linie, zweidimensional und räumlich spielen. Auch mehrere Serien von Karton-Collagen gehören dazu, auf denen die Schichten wie in einem geheimen System ineinander montiert sind. Und doch kennt die Kunst von Wünsche-Kehle noch eine andere Facette. Indem sie jenseits solcher formalen Spannungsverhältnisse ins Organische zieht.
Ihre Objekte scheinen von einer inneren Kraft getrieben aus der Geometrie auszubrechen, das Kurvige zu suchen, sich zu zellartigen Einheiten zu formen. Die Künstlerin unterstützt das, indem sie »lebendiges« Material verarbeitet: tierisches und menschliches Haar. Das menschliche bekommt sie aus dem Freundeskreis nach dem Friseurbesuch; teils muss auch die eigene Haarpracht Opfer bringen. Das tierische Haar stiftet naturbelassene Wolle. Mit den Haaren umwickelt Wünsche-Kehle ihre Draht-»Linien«, spannt dünne Flächen auf. Was faserige Strukturen in Grau- und Brauntönen ergibt, die ihre Objekte noch stärker an fantastische Mikroben erinnern lassen.
Sie selbst will die Deutung der Objekte offen halten. Zu einem sanft geschwungenen Draht-Haar-Objekt sagt sie, es erinnere sie am ehesten an eine menschliche Schulter. Viele ihrer Arbeiten verweigern sich auch der Deutung als »Organismen«.
Der abstrakte Aspekt der Arbeiten war denn auch durchaus Thema, als sechs Autoren der Gruppe SIC (Schreiben im Café) bei der Vernissage ihre von Wünsche-Kehles Objekten inspirierten Texte vortrugen. So nahm Heidemarie Köhler in ihrer lyrischen Prosa das Spiel der Weißschattierungen der Werke in den Blick. Sylvia Röhsler wiederum sah in deren Gitterstrukturen Metaphern für Halt und Durchlässigkeit im eigenen Leben.
Flüchtige Anderwesen
Und doch ist eine zoologische Deutung von Wünsche-Kehles Plastiken oft verlockend. So fühlte sich Gabriele Gutsfeld in ihren surrealen Assoziationen an »flüchtige Anderwesen« erinnert, an ein »Medusa-Luftgespinst«. Beatrice Fabricius-Kaán erklärte die Haar-Objekte in ihren kurzen, aphorismenartigen Sentenzen zum »schönen Protest gegen den schönen Schein« – und landete am Ende mit einem »Tintenfischtraum« ebenfalls im Reich des Meeres.
Martin Sowa schließlich, von einer tentakelartigen Plastik inspiriert, siedelt im Meer eine Art Mini-Weltenepos über das tragische Schicksal einer Quallenfamilie an. Samt Querbezügen zu Klimakatastrophe und Umweltpolitik.
Ob das alles tatsächlich in Wünsche-Kehles Figuren steckt? Zumindest haben sie das Potenzial, die Fantasie des Betrachters zu entzünden. Das wurde in den gewitzten, amüsanten, poetischen, nachdenklichen Texten deutlich. (GEA)
AUSSTELLUNGSINFO
Die Ausstellung »Relationen« mit Collagen und Objekten von Barbara Wünsche-Kehle ist bis 23. Februar in der Galerie im Gewölbe bei Osiander Reutlingen (Wilhelmstraße 64) zu sehen, geöffnet Montag bis Samstag zu den Öffnungszeiten der Buchhandlung. (GEA)