STUTTGART. Selbstverständlich wird hier gezwitschert, getschilpt, gezirpt, gegurrt, gepiept, geträllert, tiriliert und geschnattert, dass sich die Schnäbel biegen, natürlich nach allen Regeln der Kunst. Freilich auch mit allerhand Flöten und Pfeifen, vor allem aber sind es die Stimmen des Projektchors – 66 Stuttgarterinnen und Stuttgarter zwischen sechs und 82 Jahren –, die »Schräge Vögel« zu einem uneingeschränkt empfehlenswerten Ereignis machen.
In Auftrag gegeben von der Jungen Oper im Nord, befindet sich das zweite »Straßenoratorium« der Stuttgarter Komponistin und Librettistin Susanne Hinkelbein (bereits 2021 war mit »Nesenbach« der erste Teil dieser als Trilogie angelegten Stadtraumerkundungen zu sehen, für die Regisseurin Heidi Mottl die Zusammenarbeit mit dem Theaterkollektiv Lokstoff! gesucht hat) nach der Uraufführung vor dem Littmannbau nun auf Gastspielreise durch das Stadtgebiet, zweite Station ist der Mozartplatz. Der Erwin-Schöttle-Platz und der Südheimer Platz sind weitere Spielstätten.
Ornithologie allenthalben
»Meine Uroma stand Pablo Picasso Modell für seine Friedenstaube. Doch ihr nennt uns heut ›fliegende Ratten‹!«, klagt der mit Headsetmikrofonen ausgestattete Gospelblueschor der Paulinenplatz-Stadttauben unter seinen Vogelmasken und schwenkt, gestützt von der Stagepiano-Begleitung von Yuri Aoki, die Rollkoffer. Hinsichtlich etwaiger vom Titel ausgelöster Befürchtungen, einer Freakshow stadtbekannter Szene-Selbstdarsteller und -Artefakte beizuwohnen, kann Entwarnung gegeben werden: Hinkelbeins Libretto ist konsequent aus der Vogelperspektive erzählt. Während die aktuelle Inszenierung von Olivier Messiaens »Saint François d’Assise« als tatsächliche Pilgerreise durch den Stadtraum angelegt ist und mit der Vogelpredigt auf der Freilichtbühne am Killesberg auch Züge einer vogelkundlichen Wanderung trägt – Ornithologie allenthalben im Staatsopernprogramm also –, lädt Hinkelbeins Musiktheaterstück Zuschauerinnen und Zuschauer ab sechs Jahren zu einem imaginären, knapp 40-minütigen Rundflug über Stuttgart ein.
In Gärten und Parks entsteigen die gefiederten Protagonisten ihren goldenen Käfigen, die auch als Requisitenlager für allerlei Flügel- und Flatterelemente, Masken, Vogelpfeifen und sonstige Accessoires der detailverliebten Kostüme dienen (Ausstattung: María Martínez Peña), und tun zwitschernd ihre widerstreitenden Meinungen kund: »Dr Nopper isch an Simpel«, pfeift ein Spatzenquartett vom Dach beziehungsweise auf dem Platz. »Selber dumme Gans!«, koffert die Nilgans zurück: »Ich bin hier und ich bleib’ da!« Zuckersüß das Solo der jüngsten Sängerin als Zaunkönig, Szenenapplaus für die selbstverliebten Koloraturen der Amsel, in der von uns besuchten Vorstellung von Salome Ellinger gesungen (Diana-Haller-Fans ausgepasst: am 13. und 14. Juli leiht die kroatische Mezzosopranistin der »Turdus merula« ihre ausnehmend bewegliche Kammersängerinnenstimme).
Der Rosensteinpark ist Schauplatz der anrührenden Geschichte des »schrägen Gelbkopfamazonenpaars« Thea und Thilo, die am Ende der an Brecht/Weill angelehnten Ballade wieder glücklich vereint sind – sechs Monate haben Josefine und Frank Ellinger mit dem Laien-Projektchor gearbeitet, einmal die Woche wurde geprobt. Das hat sich ausgezahlt, gerade in herausfordernden vierstimmigen Passagen wie der »Debatte im Landtag«, der die Soprane der SPD, das Altregister der Grünen und der CDU, die Tenöre der FDP und die Bässe der AfD in einem kunstvoll koordinierten Chaos aus Worthülsen und Zwischenrufen Ausdruck verleihen.
Opernohrwürmer
Als vierter Teil der »Eckensee-Sonate« folgt ein umwerfendes Mash-up der populärsten Opernohrwürmer, Verdis Gefangenenchor und »Nessun dorma«, »Celeste Aida«, Offenbachs »Barcarolle«, Papageno aus Mozarts »Zauberflöte« darf nicht fehlen, und – klar! – ist auch hier die Liebe ein aufsässiger Vogel (wie in Bizets »Carmen«).
Ein Frauenterzett gestaltet die schwäbischen Überleitungen von Bild zu Bild, ein inspizientenartiger Engel (Paco Aldeguer) kurvt auf einem Löwenkopftretroller durch die Szene. Die Kinderschar des »Lieblichen Engelschors« wirft mit »Hamballe! Granadadackel alle!«-Unisono-Rufen der Stadtgesellschaft den Bettel vor die Füße, bevor das fabelhafte Amateurensemble die Rollkoffer packt und mit Hölderlin im Schlusschor ins Offene schaut. Hinreißend! (GEA )
Weitere Aufführungen: 13. bis 15. und 20. bis 22. Juli auf Stuttgarter Plätzen www.staatsoper-stuttgart.de