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Helden des Jammers: Tocotronic im Stuttgarter Wizemann

Tocotronic sind mit neuem Album auf Tournee und waren im Stuttgarter Wizemann. Frustrierte Teenager über 50 lassen die Gitarren krachen.

Mag die Kleinkunst schon seit 30 Jahren nicht: Dirk von Lowtzow.
Mag die Kleinkunst schon seit 30 Jahren nicht: Dirk von Lowtzow. Foto: Thomas Morawitzky
Mag die Kleinkunst schon seit 30 Jahren nicht: Dirk von Lowtzow.
Foto: Thomas Morawitzky

STUTTGART. Es war eine kleine Sensation vor 30 Jahren, dieses Album, auf dessen Cover man drei junge Menschen sah, mit T-Shirts, Cordhosen, Seitenscheitel. Ein Cover, das irgendwie an alte Klassenfotos erinnerte. Darauf Musik aus schraddelnden Gitarren und ganz großer Jammer: Eine Stimme schrie, sich überschlagend, ihren Hass hinaus – auf die Backgammonspieler, die Fahrradfahrer einer Stadt, auf die Gitarrenhändler einer anderen. Tocotronic hieß die Band, »Digital ist besser« ihr Album. Dirk von Lowtzow, Sänger und »Schlaggitarrist« von Tocotronic, heute wie damals, findet diesen Titel mittlerweile prophetisch. Seine Band hat sich gewandelt in all den Jahren, hat ihren Stil, wie man so sagt, verfeinert. Wurde dabei immerzu gescheiter, trug die Fahne der Ironie vor sich her, verwandelte alles, was deutsch und schrecklich ist, in eine immer facettenreichere Musik. Und schaffte schließlich auch den Sprung an die Spitze der Hitparaden.

Tocotronic blieben dabei Helden. Sie sind es noch am Donnerstagabend in Stuttgart: Das Wizemann ist seit Monaten ausverkauft und das Konzert wirkt wie ein Treffen der Generation jener, die in den 1990er-Jahren zwischen 20 und 30 Jahre alt waren und nun die Klamotten dieser Zeit wieder hervorkramten. Man trinkt Bier, man feiert die Band und manch einer tanzt wild zappelnd zu den kratzigen Songs aus der frühesten Zeit, die Tocotronic immer noch in ihrem Repertoire haben.

Country und Sesamstraße

»Golden Years« heißt das jüngste Album der Band. Es enthält Schlaflieder, Protestlieder, mit seinem Titelsong gar etwas, das Dirk von Lowtzow als »Tocokindercountry« titulieren wird: Ein Stilgemenge, das mit satter Ironie deutsche Liedkultur abklopft, im Plattenschrank der biederen Eltern wildert und Rocksongs kreiert, die ein bisschen nach Reinhard Mey, ein bisschen nach Sesamstraße klingen, aber giftig sind. »Denn sie wissen, was sie tun«, der Song gegen die neue Rechte, könnte mit seiner heiter trällernden Melodie und seinem Text (»Darum muss man sie bekämpfen, aber niemals mit Gewalt / wenn wir sie auf die Münder küssen, machen wir sie schneller kalt«) ohne weiteres aus der Zeit der friedensbewegten frühen 1980er stammen. Einen Augenblick lang stellt man sich Tocotronic in Latzhosen vor, aber nur ganz kurz.

Dirk von Lowtzow singt auf »Golden Years« oft als sarkastischer Bariton. Rick McPhail, Gitarrist der letzten 20 Jahre, verabschiedet sich. Plakate, die das Konzert bewerben, zeigen Tocotronic in ihrer Ursprungsformation, zu dritt, mit Bassist Jan Müller und Schlagzeuger Arne Zank. Die Befürchtung, die Band könne ohne einen Leadgitarristen auftreten, zerstreut sich schnell – auf der Bühne steht mit Felix Gebhard ein vorzüglicher neuer Gitarrist.

Sie wollen trösten

Das Konzert selbst gerät zu einem Streifzug durchs Repertoire der Band, mit Schwerpunkt auf den ältesten und jüngsten Songs. Und Dirk von Lowtzow lässt die Intonation eines bissigen Schlageronkels bald schon fallen, kreischt mit greller Stimme, keift seine Wutausbrüche und Weltschmerzklagen, spielt noch einmal den wunden Teenager, der doch nur Teil einer Jugendbewegung sein möchte. Am Tag nach dem Stuttgarter Konzert feierte von Lowtzow seinen 54. Geburtstag. Dass seine Rolle noch immer funktioniert, liegt natürlich daran, dass sie immer schon eine Farce war. Was aber auffällt zwischen den Zeilen: Heute wollen Tocotronic nicht nur wüten. Sie wollen auch trösten: »Weine nicht, ich bitte dich / der Tod ist nur ein Traum / weine nicht, ich bitte dich / du kannst mir fast vertraun‘.«

»Ich tauche auf«, ein Stück, das die Band 2021 gemeinsam mit der Österreicherin Soap & Skin veröffentlichte, wirkt wie eine Oase im Konzert: Eine Ballade, bei der von Lowtzow ernst und lyrisch klingt, bei der flirrendes, ruhiges Licht die sonst schnelle, bunte Lightshow ablöst. Je später der Abend, desto harscher sonst die Musik. Tocotronic hypnotisieren ihr Publikum, indem sie klirrende Riffs lange im Raum stehen lassen, ehe Von Lowtzow seiner Verachtung für die Kleinkunst (Songtitel!) freien Lauf lässt. Oder sie treiben ihre Lieder schnell und rockig vorbei. Ihr Konzert dauert mit drei Zugaben rund 110 Minuten. »This Boy is Tocotronic«, das Generationenporträt, ist noch immer ein perfekter Hit. Und »Freiburg«, der umjubelte Abgesang auf Dirk von Lowtzows badische Herkunft, bringt das Ende. (GEA)