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Aktuell Vokalmusik

Harmonien der Engel

REUTLINGEN. Besuch aus dem hohen Norden hatte der Knabenchor Capella vocalis: Am vergangenen Wochenende beehrten die Sänger vom Knabenchor Trondheim die Kollegen in Reutlingen. »Nidarosdomens Guttekor« heißen die Mittelnorweger korrekt – also Knaben(»Gutte«)-Chor vom Nidaros-Dom. Eine stimmungsvoll in Kutten auftretende Mannschaft von enormer Altersspanne: Die Jüngsten sind im Grundschulalter, die Ältesten tragen weiße Bärte.

Zwei sehr unterschiedliche Stimmkörper trafen da in der Christuskirche zusammen und harmonierten doch in den gemeinsamen Teilen prächtig. Die Gastgeber von der Capella präsentierten sich an diesem Abend als ein Chor von etwa 40 Sängern, der hörbar in der Barockmusik wurzelt: Der durchsichtige Klang, die messerscharf gezirkelten Koloraturen, die auf kleinstem Raum gestalteten Motivgesten, der lebhafte rhythmische Puls und die genau getimte Stufung in Tempo und Lautstärke – all das trug nicht nur die frühbarocken Werke von Heinrich Schütz und Johann Bach, sondern auch die romantischen Stücke von Bernhard Klein (»Der Herr ist mein Hirte«) und Saint-Saëns (»Tollite Hostias«).

Ein Höhepunkt war die Motette »Unser Leben ist ein Schatten« von Johann Bach (1604–1673), dem Großonkel Johann Sebastians. Geisterhafte Koloraturschlenker folgen hier wie Schatten den akzentuierten Hauptmotiven – und Schatten sollen sie auch klanglich darstellen: Toll ist das umgesetzt!

Fließende Melodik, großer Klang

Die Norweger mit ihren 60 Sängern legen den Schwerpunkt mehr auf die geschmeidig fließenden Linien und einen großen Klang. Damit waren sie in Werken der Romantik bestens aufgehoben, aber auch in der hymnischen Melodik eines John Rutter (»The Lord bless you and keep you«). Oder im impressionistischen Funkeln angeschärfter Harmonien, das die neuen Komponisten Skandinaviens, Großbritanniens und des Baltikums so gut draufhaben wie Knut Nystedt oder Fredrik Sixten. Immer wieder baute der Chor unter seinem Leiter Bjørn Moe von unten nach oben diese Harmoniefelder auf, die wirken, als klettere man dem Himmel entgegen und höre auf dem Spitzenton die Engel singen.

Gestützt wurden diese mit Kraft und Klarheit in den Raum gestellten Harmoniefelder oft durch Erling With Aasgård an der großen Orgel. Durch geschickte Auswahl der Register entrückte Aasgård den Klang vollends ins Mystische, etwa in Jon Laukviks »Three Metaphysical Poems«. Oder ganz am Ende, dann gemeinsam mit der Capella, in Henry Balfour Gardiners »Evening Hymn«.

Zwischendurch verschaffte Aasgård den Sängern eine Atempause durch ein Solo mit Bachs Präludium und Fuge G-Dur. Beide ließ er in quicklebendigen Tonketten in den silberhell schimmernden Prinzipalregistern dahinperlen.

Solistische Formationen

Beide Chöre setzten gerne dem Hauptchor kleinere Formationen entgegen. Die Capella verwendete dafür ein famoses solistisches Trio, das im Chor verteilt blieb – ein durchaus reizvoller Effekt. Nicht weniger reizvoll lösten es die Norweger, die eine kleine Abordnung ans andere Hallenende schickten, sodass sich Haupt- und Favoritchor über die Köpfe der Hörer hinweg zusangen.

So schlugen die Norweger den Bogen von romantischen über modern angeschärfte Stücke bis hin zu solchen mit Jazz- oder gar Musical-Elementen. Besonders mitreißend war die peppige, gospelartige Rhythmik von Bryan Kellys »O clap your hands«.

Das Publikum im gut besuchten Saal war begeistert – und bekam nach einem gemeinsam gesungenen Schlussteil mit Grieg, Rutter und Gardiner gleich mehrere Zugaben auf den Weg. (GEA)