STUTTGART. Während die Sonne über dem Stuttgarter Kesselrand langsam untergeht, stehen rund 500 Autos vor einer großen Bühne und einer noch viel größeren, genau gesagt 240 Quadratmeter großen Leinwand auf dem Cannstatter Wasen. Es ist Corona-Zeit. Für Konzerte heißt das, es ist Auto-Zeit. Seit gut zwei Monaten wird der Wasen coronagerecht bespielt, Programm auf der Leinwand, Publikum im Auto. Am 17. Juli sind die Orsons hier zu Gast.
Das Datum passt, denn die Orsons bringen an diesem Tag ein neues Album heraus. »Tourlife4Life« heißt es und ist nach dem in Rap-Blogs und Feuilletons großer Zeitungen hochgelobten »Orsons Island« ihr zweites Album innerhalb eines Jahres. Dass am Release-Tag jetzt auch noch ein Konzert in Stuttgart gebucht sei, wäre für die Orsons eine Freude, sagen sie. Die Orsons, jene Band, die mit »Schwung in die Kiste« schwäbische Rap-Zeilen in die deutschen Charts gebracht hat und in der mit Maeckes und Bartek zwei Stuttgarter und mit Tua und Kaas sogar zwei Reutlinger auf der Bühne stehen.
Stehen darf das Publikum auf dem Wasen an diesem Abend nicht. Man muss im Wagen bleiben, auf die Toilette darf man nur mit Maske. Deshalb setzen sich die Leute, als es losgeht, in die Fenster ihrer Autos, auf den Dächern stehen Bierflaschen und Wodka in Plastikbechern. Die Radios, über die der Sound von der Bühne kommt, sind laut aufgedreht. Eine Soundanlage aus 500 Autoradios macht auf jeden Fall auch einen gar nicht so schlechten Konzertlärm. Der Sound ist besser als an manchen Abenden in der Schleyerhalle.
Zunehmend politisch
Das neue Album »Tourlife4life« haben die Orsons auf ihrer letzten Tour in Bussen und Backstage-Bereichen geschrieben, sagt Tua auf der Bühne. »Tourlife4life« ist nachdenklicher als seine Vorgänger, Club-Hits wie »Schwung in die Kiste« sucht man vergebens. Auf dem neuen Album sind die Orsons politischer geworden. Auf »Oioioiropa« singt Bartek über das Privileg der europäischen offenen Grenzen. Auf »Energie« schreit Tua: »Mittelfinger für die Nazis!«
Die Politisierung der Band ist ein Prozess, der langsam schon auf dem Vorgängerwerk »Orsons Island« anklang, im Song »Schneeweiß« zum Beispiel. Während es auf dem Wasen langsam dunkel wird, singt Kaas diesen Song und schleift dabei ein Skelett über die Bühne: »Denn die Hölle ist hier / die Hölle in mir / Die Sonne brennt mir Haut vom Leib.« Am Ende von »Schneeweiß« wird eine Rede der Klimaaktivistin Greta Thunberg eingespielt. Töne, die man auf dem Wasen, wo die vergangenen Wochen Querdenker gegen die Corona-Maßnahmen demonstriert haben, wohl länger nicht mehr gehört hat.
Bis die Batterie streikt
An diesem Abend jedenfalls schallen Orsons-Lieder aus den Lautsprechern der Radios, keine Verschwörungstheorien aus Megafonen. Das Konzert ist gut, die Leute haben Spaß in den Autofenstern. Die Radios sind laut aufgedreht, das kostet natürlich Strom, und wer mit einem älteren Auto gekommen ist, dessen Batterie macht nach 90 Minuten energiegeladener Orsons-Beschallung schlapp.
Was jetzt? Eine junge Frau kommt und fragt: »Braucht ihr Hilfe?« Sie winkt mit einem Überbrückungskabel in der Hand. Sie sei schon immer Orsons-Fan, sagt sie. Echte Konzerte seien ihr natürlich lieber, als im Auto zu sitzen: »Aber besser als nichts!«
Mit ihrer Freundin sei sie mit einem Mietwagen acht Stunden von Hamburg zu diesem Autokonzert nach Stuttgart gefahren. Heute, zum Erscheinungstag des neuen Albums ihrer Lieblingsband, könne man das schon mal machen. Während sie dafür sorgt, dass die Batterie wieder voll wird, erzählt sie, dass sie morgen eine Weintour mit Abstand in Mainz gebucht habe. Weintour mit Abstand und Autokonzert von den Orsons – was man in diesen Zeiten halt so macht. (GEA)