MELCHINGEN/MÖSSINGEN. Eine Premiere bildet den Auftakt zum Mössinger Kulturherbst vom 19. September bis 19. Oktober in der Pausa-Bogenhalle in Mössingen: Franz Xaver Ott, Autor und Schauspieler des Theater Lindenhof, widmet sein neues Stück »Ikarus vom Lautertal« Gustav Mesmer, der mit seinen außergewöhnlichen Fluggeräten bekannt wurde. Ott ist selbst in der Gustav Mesmer Stiftung engagiert und hat sich intensiv mit Mesmers Erbe auseinandergesetzt, das weit mehr umfasst als die Flugobjekte. Neben Ott steht der Musiker Thomas Maos auf der Bühne. In Szene gesetzt wird das Stück durch Videokünstler und Regisseur Finn Bühr. Lindenhof-Pressefrau Simone Haug sprach mit Ott und Bühr.
Franz, wie kamst du dazu, dich mit Gustav Mesmer zu beschäftigen?
Franz Xaver Ott: Ich komme aus der Gegend, in der Gustav Mesmer die letzten dreißig Jahre gelebt hat. Er ist dort bekannt gewesen. Ich habe 1994 ein Stück über Jungesellenmaschinen geschrieben und da war ein Motiv die Flugmaschine, die angelehnt war an die von Gustav Mesmer. Ich habe mich in Etappen immer weiter mit seinem Werk beschäftigt und bin inzwischen auch in der Gustav Mesmer Stiftung engagiert. Jetzt bin ich in einem Alter angekommen, in dem ich mich traue, den gestandenen, gewachsenen Gustav Mesmer zu verkörpern.
Kannst du uns den Menschen Gustav Mesmer kurz vorstellen?
Ott: Gustav Mesmer hat von 1903 bis 1994 gelebt, ist in Altshausen aufgewachsen und hatte viele Schicksalsschläge. Er musste früh die Schule beenden und hat ab dem zwölften Lebensjahr in der Landwirtschaft als »Verdingbub« gearbeitet. In seiner letzten Arbeitsstelle war er im Kloster Untermarchtal. Die Nonnen haben ihn aufgefordert, sich als Klosterbruder zu bewerben. Er war dann sechs Jahre im Kloster Beuron und wird dort aus nicht bekannten Gründen »unehrenhaft« entlassen. Das hat ihm eine große Wunde zugefügt, da seine Familie davon ausging, dass er dort eine lebenslange Versorgung findet. Kurz danach hat er in seinem Heimatort einen Eklat ausgelöst. Er war katholisch, ist aber in die evangelische Kirche gestürmt und hat die Konfirmationsfeier unterbrochen. Daraufhin wurde er von einem Arzt in die Psychiatrie eingewiesen und war dort 35 Jahre lang. Die letzten 30 Jahre hat er in einem Altersheim für geistig oder psychisch beeinträchtigte Personen in Buttenhausen verbracht. Dort ist es ihm gelungen, das, womit er sich viele Jahre beschäftigte, umzusetzen.
Konntest du bei der Vorbereitung zu diesem Theaterstück, das du auch geschrieben hast, Neues entdecken?
Ott: Es ist so, dass ich dieses Stück nicht wirklich geschrieben, sondern vielmehr konzipiert habe. 95 Prozent der Texte sind Originaltexte von Gustav Mesmer. Ich habe mich in den letzten Jahren stark mit seinem schriftlichen Werk beschäftigt. Da gibt es noch viel zu entdecken, insbesondere, wenn es um seine religiösen Schriften geht. Erst in den letzten Monaten habe ich eine Lebensbeschreibung aus dem Jahr 1955 entdeckt, die noch einen ganz neuen Blickwinkel eröffnet.
Ihr habt Euch auch praktisch Mesmer angenähert, indem ihr versucht habt, ein Flugfahrrad nachzubauen.
Ott: Wir sind zuerst in das Gustav Mesmer Archiv nach Kirchentellinsfurt gegangen und haben uns Kataloge und Bildmaterial angeschaut. Die Erfahrung war, dass man da schon viel probieren und basteln muss. Das Flugfahrrad wird während der Vorstellung zusammengebaut und das ist jedes Mal eine kleine Challenge.
Finn, inwiefern ergänzt du die Arbeit von Franz?
Finn Bühr: Franz suchte ein junges Paar Augen, das noch mal anders auf das Thema schauen. Die Individualität in Mesmers Texten, diese Eigenheit, die bringen wir drei irgendwie auch mit. Und es ist schön, individuell diese Räume kreieren zu können – ich mit meinen Videos und Franz und Thomas mit ihrer Kunstform. Auch ich bastele bei der Produktion von Videos am Computer und weiß zuvor nicht, wohin es gehen soll. Für das Stück benutze ich Farben dezent. Eine lange Phase seines Lebens befindet sich Gustav Mesmer im Kloster, und es gibt ein großes Bild, was ein Kirchenschiff sein könnte. Die Psychiatrie versuche ich, durch monotone Lichtgestaltung rüberzubringen.
Ihr legt somit eure eigenen Kunst-formen über die Kunst von Mesmer?
Ott: Mesmer hätte sich selbst nie als Künstler bezeichnet. Er selbst hat sich viel mehr als Flugforscher, Flugentwickler und Flugradbauer verstanden. Das Faszinierende an ihm ist, dass er einen ganzen Werkkosmos geschaffen hat: Er hat aus einfachen Materialien Musikinstrumente, Flugfahrräder, Schwingenfluggeräte, Stelzenfluggeräte, Absprungschuhe oder einen Sturzpanzer gebaut. Er hat viel geschrieben, was lange nicht bekannt war, sondern erst nach seinem Tod aus einem Schrank quoll und noch nicht ganz aufgearbeitet ist. Er hat seine Werkzeuge selbst gebaut und sich seinen Personalausweis selbst gemacht. Er hat sich seine eigene Welt kreiert, als Weg der Selbstbehauptung: Das bin ich, auch wenn ihr mir hier in der Psychiatrie jegliches Recht absprecht. Einmal schreibt er: »Es kam ein Engel, hell und klar, vom Himmel zu der Irrenschar und brachte deiner Krippen Schwingen um mehr Freiheit freieren Haag!« Also das Fliegen ist ein Motiv in seinem Werk. Das andere hat mit der Levitation zu tun, dem freien Schweben im Raum, der Auferstehung, der Himmelfahrt, das war für ihn auch eine Art der Erlösung. Er nannte sich Privatordensmann mit einer privaten Religion.
Inwiefern ergänzt Thomas Maos mit seiner Musik Schauspiel und Visuals?
Bühr: Thomas ist auch ein sehr eigener Typ, der es über Jahrzehnte perfektioniert hat, mit Gitarre und Effekten ein Film- oder Theaterscoring (einen Soundtrack, d. Red.) alleine zu spielen. Er spielt eigentlich die ganzen 1,5 Stunden durch. Manchmal sind es nur Klänge, manchmal ganze Kompositionen. Es ist sehr stimmungsvolle Musik, die mehr auf Emotionen und die Atmosphäre abzielt. (eg)
AUFFÜHRUNGSINFO
Das Stück »Ikarus vom Lautertal. Gustav Mesmer – Ein Flugradbauer und sein Leben« feiert am 19. September um 19.30 Uhr in der Pausa-Bogenhalle in Mössingen seine Premiere. Danach ist es noch am Sonntag, 21. September, im Rahmen des Kulturherbst zu sehen. Weitere Vorstellungen finden am 2. und 6. November im Theater Lindenhof in Melchingen statt. (GEA) www.theater-lindenhof.de

