TÜBINGEN. Die Religion hat ihre ganz eigene Anziehungskraft. Sie öffnet Fenster in Sphären jenseits der materiellen Welt. Und lässt uns in dieser das Göttliche ahnen. Muss man sich diesem Sog kindlich-unhinterfragt hingeben? Oder ist Skepsis erlaubt bei der Berührung mit dem Übernatürlichen?
Für Gunther Klosinski, Autor, Fotograf, Künstler und bis 2010 Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Tübingen, gehört der Zweifel zum Glauben dazu. »Zweifler müssen nicht weniger glücklich sein, sie sind nur komplizierter gläubig«, schreibt er in seinem neuen Buch »Glauben dürfen – zweifeln müssen. Antworten auf Gretchens Frage«.
In diesem Band stellt er Aphorismen über das Verhältnis von Glaube und Zweifel Fotografien gegenüber, aus denen das Wunderbare der Schöpfung leuchtet. Kurze, komprimierte Denkanstöße sind seine Aphorismen, deren Wesen auch in ihrer Unabgeschlossenheit liegt.
Kein Makel, sondern Vorteil
»Halbwahrheiten« nennt Klosinski diese Sentenzen denn auch selber. Was kein Makel ist, sondern ein Vorteil. Denn in ihrer Unabgeschlossenheit fordern die Aphorismen den Leser auf, sie weiterzudenken. Welche Folgerungen könnten diese verdichteten Zeilen nahelegen? Und treffen sie einen Kern? Oder sind nun umgekehrt von Leserseite aus Zweifel angebracht?
Was Klosinski damit wunderbar einfängt, ist die Dialektik des Glaubens. Er spendet Trost, indem er uns das Gefühl vermittelt, in einem in sich schlüssigen Ganzen aufgehoben zu sein. Und doch sind wir innerhalb dieses schlüssigen Ganzen nur dann vollwertige Individuen, wenn wir auch Fragen an dieses Ganze stellen. Wenn wir zweifeln.
Hier und da lässt Klosinski denn auch mal ein paar Spitzen los gegen eine allzu unhinterfragte Glaubensinbrunst. »Wer Feuer und Flamme ist / Für jeglichen neuen Glauben / Sollte sich beizeiten / Einen Feuerlöscher zulegen«, frotzelt er etwa. Hegt jedoch auch Bedenken gegen einen »Zweifel total: Wenn man nichts mehr glauben kann / Und sich gezwungen sieht / Selbst dies noch anzuzweifeln«.
Glaubenserfahrung zwischen den Extremen
Zwischen diesen Extremen bewegt sich die reale Glaubenserfahrung. Dass sie auch dem Zweifler die Berührung mit dem Wunderbaren ermöglicht, daran lässt Klosinski schon durch die begleitenden, höchst eindrucksvollen eigenen Fotografien keinen Zweifel.
Dünen, Bäume, Eisberge, Wolken, winterliche Natur, ein von der tiefstehenden Sonne entflammter Himmel: Die religiösen Zweifel sind das eine – die Tatsache einer von unbegreifbarer Schönheit durchdrungenen Schöpfung das andere. Daran, dass in dieser ein göttlicher Funke steckt, kann angesichts dieser überwältigenden Bilder nun kaum noch ein Zweifel bestehen. (GEA)