ZÜRICH. Das Fontane-Jahr 2019 ist auch ein Keller-Jahr. Theodor Fontane und Gottfried Keller sind zwei höchst bedeutsame deutschsprachige Dichter des poetischen Realismus in dieser europäischen Literatur-Epoche.
Gottfried Keller wurde am 19. Juli 1819 in Zürich geboren, er starb dort am 15. Juli 1890. Der in kleinbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsene Keller wollte Landschaftsmaler werden. Die Ausbildung in München musste er jedoch abbrechen. Ein Stipendium des Kantons Zürich ermöglichte ihm, in Heidelberg Geschichte, Philosophie und Literatur zu studieren. Prägend war dort vor allem die Begegnung mit dem Philosophen Ludwig Feuerbach. Dessen Religionskritik führte Keller zu einer betonten Hinwendung zum Diesseitigen.
Der Versuch, in Berlin als Theaterdichter wirken zu können, schlug fehl. Seine schöpferische Kraft entfaltete sich in der Erzählkunst und in der Lyrik. Er kehrte in seine Heimatstadt Zürich zurück, wurde Staatsschreiber des Kantons Zürich (1861 bis 1876) und wirkte als angesehener Schriftsteller.
Novellen
Keller ist vor allem als Novellen-Dichter bis heute lebendig geblieben. Hier erzählt er von der Fülle und Schönheit der Wirklichkeit, aber auch von ihrer tragischen Seite. Freiheitsdenken und soziale Verantwortung sind weitergreifende Perspektiven. Er hat diese kleineren Erzählungen in vier Novellen-Zyklen gebündelt: »Die Leute von Seldwyla«, »Sieben Legenden«, »Züricher Novellen« und »Das Sinngedicht«.
Die Geschichten sind überwiegend im kleinstädtischen und dörflichen Milieu der Schweiz angesiedelt. Zwei Novellen vor allem gehören zum kanonischen Bestand der deutschen Literatur. In »Kleider machen Leute« wird der Schneidergeselle Wenzel Strapinski irrtümlich für einen Grafen gehalten, weil er gut gekleidet ist und unterwegs in einer Kutsche mit Grafenwappen mitgenommen wurde. Beim Versuch, sich aus dieser Rolle zu befreien, kommt es zu grotesken Missverständnissen, die ihn sogar in Lebensgefahr bringen. Schließlich wird er durch die Liebe einer Frau gerettet.
Diese Verwechslungs-, Entlarvungs- und Liebesgeschichte wird mit Humor und zupackender Satire erzählt. Sie ist vergnüglich zu lesen, unterhält und belehrt zugleich, lässt im erzählten Milieu des 19. Jahrhunderts allgemein Menschliches erkennen. Nicht zuletzt verweist die Spannung von Schein und Sein auch auf Zusammenhänge zwischen Individuum und Gesellschaft.
In der Novelle »Romeo und Julia auf dem Dorfe« verlegt Keller die Geschichte des Veroneser Liebespaars aus verfeindeten vornehmen Familien ins bäuerlich-schweizerische Milieu. Angesichts der Feindschaft ihrer Väter erkennen Sali und Vrenchen die Hoffnungslosigkeit ihrer Liebe und gehen in den Tod.
Entwicklungsroman
In dem autobiografischen Roman »Der grüne Heinrich« (Zweite Fassung, 1878/80) erzählt Keller den Werdegang eines jungen Künstlers. Die Kindheit erscheint als Vorspiel für das ganze Leben, die Künstlerexistenz gewinnt Modellcharakter für das Zusammenleben. Das Werk ist insofern ein negativer Entwicklungsroman, als sein Held zu einem Leben in Entsagung geführt wird.
Keller an Kerner
Ein bis heute interessanter poetischer Disput ergab sich, als der schwäbische Arzt, Wissenschaftler und Dichter Justinus Kerner (1786–1862) sich besorgt über die technische Entwicklung äußerte. In dem Gedicht "Unter dem Himmel" (auch mit dem Titel "Im Grase, 1845) befürchtete er, dass die Technik einer "dampfestollen" Zukunft die Natur und die Poesie beschädigen könnte. Der Dichter möchte "in Gras und Blumen liegen / schaun dem blauen Himmel zu".
Der 33 Jahre jüngere Dichter-Kollege Gottfried Keller beruhigte den Älteren liebevoll mit dem Gedicht »Erwiderung an Kerner« (1846): »Dein Lied ist rührend, edler Sänger.« Er könne weiterhin im Grase liegen und dichten, denn die Poesie sei dem Menschen angeboren. Auch weist er auf befreiende Wirkungen der kommenden Technik hin.
Gedichte
In seinem lyrischen Werk mit über 500 Gedichten greift Keller politische, sozialkritische, heimatbezogene, philosophische Themen auf. Lebendig geblieben sind vor allem erlebnishafte Naturschilderungen und Tageszeitgedichte mit Lebenszeit-Aspekten. Manche seiner Gedichte wurden vertont – von Johannes Brahms, Paul Hindemith und anderen.
Die erste Strophe des Gedichts »Winternacht« zeichnet in dichter Bildlichkeit die Stille der winterlichen Natur: »Nicht ein Flügelschlag ging durch die Welt / still und blendend lag der weiße Schnee. / Nicht ein Wölklein hing am Sternenzelt / keine Welle schlug im starren See.«
Das an romantisches Naturempfinden erinnernde Bild der in sich ruhenden Natur wird bei Keller durch die Figur der im Eis eingeschlossenen Nixe ins Abgründige, Bedrohliche gewendet. Die letzte Strophe: »Mit ersticktem Jammer tastet’ sie / an der harten Decke her und hin / ich vergess das dunkle Antlitz nie / immer, immer liegt es mir im Sinn!«
Abgeklärt und bewegend zugleich klingt Kellers »Abendlied«: »Augen, meine lieben Fensterlein / gebt mir schon so lange holden Schein / lasset freundlich Bild um Bild herein: / Einmal werdet ihr verdunkelt sein.«
Am Abend des Tages erfassen die Augen auch das nahe Lebensende. Einmal »fallen die müden Lider zu«, die Seele »streift ab die Wanderschuh’«. In solchen Sprachbildern – »Bild um Bild« – bereitet der Dichter, der Maler werden wollte, auf den letzten Augenblick vor – im genießenden Bewusstsein der Fülle und Schönheit des Lebens. Die letzte Strophe: »Doch noch wand’l ich auf dem Abendfeld / nur dem sinkenden Gestirn gesellt; / trinkt, o Augen, was die Wimper hält / von dem goldnen Überfluss der Welt.«
Gottfried Keller, ein großer Erzähler und Lyriker, realistisch in poetischen Bildern, kann immer noch und immer wieder mit Gewinn gelesen werden. (GEA)