STUTTGART. Weiterentwicklung, Wiederentdeckung und die Fusion mit anderen Musikstilen: Das ist das Konzept der 42-jährigen Yilian Cañizares. Mit ihrem Mix aus afrokubanischen Rhythmen, Jazz und Klassik entwickelt die kubanische Violinistin und Sängerin einen unverwechselbaren Sound, der am Ostersonntag bei den 35. Theaterhaus Jazztagen zwar etwas schleppend in Fahrt kommt, von dem die Besucher am Ende aber gar nicht mehr genug kriegen können.
Es ist ein sonderbar abgelegenes Spielfeld, das die in Havanna geborene und seit Jahren in Lausanne lebende Kubanerin abseits aller Trends bespielt. Das Konzert beginnt mit sperrigen, fast düsteren Sounds und einem nachdenklichen Aufruf gegen Rassismus. Doch schon bald gehen die etwas holprigen Anfangstakte in ein kubanisch pulsierendes Rhythmusgeflecht über. Wie ein bunter Schmetterling tänzelt die Frau mit dem beeindruckenden Hüftschwung über die Bühne, angetrieben von den Schlägen des kubanischen Drummers und Perkussionisten Inor Sotolongo und funkig unterstützt vom E-Bassisten Childo Tomas aus Mozambique.
Beseelte Stimme
Das Besondere ist dabei die Akzentuierung, die Yilian Cañizares mit ihren schrägen Geigensoli und ihrer klaren, beseelten Stimme setzt. Zielsicher beschreiten die drei Musiker den Weg zurück zu den afrokubanischen Wurzeln und lassen wiederholt intelligente Weltmusik-Elemente einfließen. Mit viel Groove zelebriert das kubanische Trio seine leidenschaftlichen Bekenntnisse und sorgt für die typisch fließende Rhythmik, die nicht nur die Tradition des Son wiederbelebt und das Publikum am Ende zum Mitsingen animiert, sondern auch Beweis dafür ist, dass dieser kubanische Musikstil aktueller denn je ist.
Für das Highlight des Abends sorgt jedoch der kubanische Jazzpianist Alfredo Rodriguez mit einem überragenden Konzertauftakt. Der seit 2009 in den USA lebende Pianist improvisiert mit rasanter Höchstgeschwindigkeit zu kubanischen Themen und sprüht nur so vor Experimentier- und Spielfreude. Anleihen aus den Bereichen Latin, Funk, Rock und kubanischem Son fließen bei dem 39-Jährigen und seinen beiden Mitspielern Yarel Hernández (E-Bass) und Michael Olivera (Schlagzeug) fast beiläufig mit ein, so, als gehörten sie immer schon zur klassischen Jazzimprovisation.
Zerlegter Michael-Jackson-Hit
Ein Erlebnis zuzuschauen, wie Rodriguez sich in den Tasten vergräbt und entrückt in seiner Musik aufgeht. Wie er sich in leidenschaftlichen Akkordzerlegungen zu verlieren scheint und Gassenhauer wie »Bésame Mucho«, »Guantanamera« oder den seinem Mentor Quincy Jones gewidmeten Michael-Jackson-Hit »Thriller« derart zerlegt, dass sie kaum noch zu erkennen sind. Wie er die Unübersichtlichkeit der Stile mit brillanten Läufen reflektiert und dem Jazz neue Impulse einhaucht. Zuweilen begleitet der Pianist seine Improvisationen auch mit Gesang und lässt das Publikum, wie in »Ay, Mamá, Inés«, Strophe und Refrain mitsingen.
Diese unorthodoxe und keine Spur kopflastige Beschäftigung mit kubanischer Musik darf als durchaus fulminant bezeichnet werden. Lange vor den zwei Zugaben sind selbst eingefleischte Jazzpuristen von Alfredo Rodriguez’ Können, Esprit und Charme überwältigt und quittieren den Auftritt mit stehenden Ovationen. (GEA)