REUTLINGEN. Seit gestern ist die Ausstellung von Sunah Choi im Reutlinger Kunstverein zu bewundern. Ein paar Tage zuvor wuselte es hier noch wie auf einer Baustelle im ersten Stock der Wandel-Hallen. Fast so, als würden Handwerker eine Wohnung einrichten. Tatsächlich sieht es nun teilweise nach Wohnen aus. Hier sieht man ein Regal, dort eine Art Garderobe, eine Sitzbank, eine bettähnliche Struktur. Es sieht aber auch nach Industriebetrieb aus. Mit Gitterstrukturen in verschiedenen Formen. Mit Arbeitskitteln, die an Haken hängen. Mit einer Bettform, die auch Siebmaschine sein könnte.
Und schließlich sieht es nach Kunst aus. Mit einem Raster großer, farbig bemalter Glasscheiben, die den Besucher gleich beim Eintreten erwarten. Mit abstrakten Landschaften von Pflastersteinen, die mit Magneten an riesigen Stahlscheiben kleben. Mit Projektionen von farbigem Licht durch Gitterelemente auf weiße Flächen. Wohnen, Arbeiten, Kunst – hier fließt das alles untrennbar zusammen.
»Die Idee entsteht bei mir immer am Ausstellungsort«, erklärt Sunah Choi. »Jedes Gebäude hat eine Geschichte.« Hier ist es die Geschichte einer Metallsiebfabrik. Industrielle Siebe für die Papierherstellung wurden hier hergestellt. Firmengründer Christian Wandel hatte dazu 1897 ein wichtiges Patent angemeldet: eine Neuerung, durch die verhindert wurde, dass sich bei der Papierproduktion Klümpchen bildeten. Ein sogenannter »Knotenfänger«. So erst wurde es möglich, glatte Papierbahnen herzustellen.
Mehrdeutige Gitterobjekte
»Knotenfänger« heißt nun auch die Ausstellung. Gemeint sind hier damit auch die Knotenpunkte gedanklicher Netzwerke. Denn alles hier im Raum ist in einem Ideennetzwerk verwoben.
Zentrales Element in diesem Netz von Assoziationen sind die Gitterobjekte. »An Gittern interessiert mich die Mehrdeutigkeit«, erklärt Sunah Choi. Sie erlaubten Durchblicke wie Fenster; doch versperrten sie den Durchgang, seien Hindernisse.
In den Wandel-Hallen kommt noch ihre Ähnlichkeit zu den früher hier hergestellten Metallsieben hinzu. Die rasterartige Form der Gitter steht für Sunah Choi für Raster überall in unserem Leben – auch für Raster im Sinne von Vorurteilen.
Schließlich ist es der aus dem Alltag vertraute Eindruck, mit dem Sunah Choi spielt. Man kennt diese Strukturen, die Gitter, die Regale, die Scheiben. Doch hier sind die Objekte ein Stück weit aus dieser vertrauten Sphäre herausgerückt.
So flicht Sunah Choi Ketten von Assoziationen, die immer wieder zum Ausgangspunkt zurückkehren. Die Gitterobjekte etwa formieren sich zur angedeuteten Arbeiter-Umkleide, zu Spinden, zur Garderobe, an der Arbeitskittel aus Blaupausenpapier hängen.
Weiter geht der Assoziationsstrom, verwandelt industrielles Material, bringt es in ästhetische Kontexte. Mit blauem, gelbem, rotem Licht durchstrahlte Gitterobjekte verweisen auf farbige Kirchenfenster. Pflastersteine, die durch Magnete am Metallgrund haften, verbinden Straßenbau und Kunstwelt.
Die Regale, auf die man an vier Stellen stößt, entwickeln den Faden weiter: Sie sind Sunah Choi zufolge Orte, wo Dinge abgelagert und wieder aufgenommen werden. Sie sind in ihrer Sicht auch Speicher von Wissen. Symbolisch hat sie je ein Regal für die Sphären von Handwerk, Wissenschaft, Kunst und Landwirtschaft gestaltet. Mit stilisierten Büchern, Wurzeln, Pinseln, Steinen, Alustäben und Hammerteilen. Auch Fotogramme stehen dort, die Sunah Choi gefertigt hat: Grafiken, die entstanden sind, indem sie Blätter oder anderes Material direkt auf Fotopapier gelegt und dieses belichtet hat.
Anderswo erinnern große Papierrollen an Eisenstangen an die einstige Bestimmung des Gebäudes. Ebenso wie lange Papierröhren in einem gitterförmigen Korb. Das Arrangement erinnert an eine Resteecke in einem Betrieb, ist gleichzeitig sorgfältig komponierte Plastik.
Farbige Glasplatten
Schließlich die farbigen Glasplatten, in einem Eisengestänge wie in einer Glaserei abgestellt. Weitere hängen wie Kunstwerke an der Wand. Auch hier durchdringen sich die Sphären von Kunst und Alltag.
»Ich will nicht die Geschichte dieses Gebäudes nacherzählen, es geht mir nicht darum, zu illustrieren«, erklärt Sunah Choi. Es gehe ihr darum, aus der Auseinandersetzung mit diesem Ort eine eigene ästhetische Qualität zu gewinnen.
Fast alle ihre Arbeiten sind extra für diese Ausstellung entstanden. Das wurde möglich, weil der Kunstverein für das Projekt eine Förderung aus dem Innovationsfonds des Landes von rund 23 000 Euro erhalten hat. Unter den 34 bedachten Projekten seien nur drei Kunstvereine und zwei Kunsthochschulen. Von daher ist Kunstvereinsleiterin Imke Kannegießer stolz, dass sie mit der Ausstellung den Zuschlag erhalten hat. Ein geglückter Start in eine hoffentlich nicht mehr in dem Maße pandemiegeplagte Phase. (GEA)
AUSSTELLUNGSINFO
Die Ausstellung »Knotenfänger« mit Arbeiten von Sunah Choi ist bis zum 15. August im Kunstverein Reutlingen in den Wandel-Hallen, Eberhardstraße 14 in Reutlingen, zu sehen. Geöffnet ist Mittwoch bis Freitag 14 bis 18 Uhr, Samstag, Sonntag und Feiertage 11 bis 17 Uhr. Der Eintritt ist frei, wegen der Corona-Pandemie wird Anmeldung erbeten, in der Ausstellung herrscht Maskenpflicht. (GEA)
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