STUTTGART. Jeder hat seinen Ruf zu verteidigen. Chuck Norris isst keinen Honig, er kaut Bienen. Und Anja Pavlova nimmt als echte Diva kein Bad, sondern steigt ins Champagnerglas. Natürlich ist schon das Entkleiden ein laszives Spektakel. Diener Álvarez schließt beseelt die Augen, als er ein paar Spritzer des von der Göttin veredelten Badewassers abbekommt.
Die Nummer mit dem Champagnerglas ist ein Klassiker des Burlesque. Anhand dieses Genres, sprich der Kunst des erotischen Sich-Entblätterns, erzählt das Friedrichsbau Varieté in seiner neuen Show »Burlesque Chronicles« die Geschichte des Revuetheaters vom späten 18. Jahrhundert bis heute. Was Sinn hat, nicht nur weil Burlesque heute wieder der Hit ist: Im Revue-Striptease zeigt sich die Essenz des Varietés als Flucht aus dem Alltag in bunte Glitzerwelten, was erotische Träumereien mit einschließt. Anlass ist, dass im Jahr 1900, also vor 125 Jahren, in Stuttgart das erste Friedrichsbau-Theater eröffnete, in dessen Nachfolger man nun sitzt. Auch damals schon spielte die Reizkombination von Glitzer und nackter Haut eine wesentliche Rolle.
Hier darf man nun nicht nur ausnahmsweise Voyeur sein, sondern ist als solcher dringend gefordert, sonst wäre der ganze Aufwand des tänzerischen Garderobenverlusts ja völlig umsonst. Moderator Merlin Johnson ruft den Besuchern denn auch zu: »Lassen Sie sich gehen, tun Sie, was Sie brauchen, um sich wohlzufühlen – aber machen Sie mit!« Wobei die Voyeure nicht selten Voyeurinnen sind. Im Gegensatz zu den Anfängen im 19. Jahrhundert zieht das Burlesque-Revival der letzten Jahre auch viele Frauen an. So auch am Samstagabend: Rein weiblich besetzte Tischrunden sind nicht selten, eine Gruppe junger Frauen ist auf Junggesellinnen-Abschied da.
Spiel mit Voyeurismus
Regisseur Ralph Sun holt das Wechselspiel von aufreizender Performance und lüsternen Blicken auf die Bühne, macht jeweils den Rest des Ensembles zum Publikum innerhalb der Szene. Sodass sich das Spiel von Performerin und Voyeuren noch einmal verdoppelt.
In vier Blöcken taucht das Ensemble dabei jeweils in eine Epoche ein, was Regisseur Sun atmosphärisch dicht in Szene setzt. Erst findet man sich in einem derben Wirtshaus-Panorama der 1800er-Jahre wieder, wo die Unterschicht feiert. Bierkrüge klirren, Moderator Johnson schlägt auf dem Banjo die Polka an und die Stuttgarter Lokalmatadorin Miss Maeve gibt das leichte Mädchen, das im Rausch des Augenblicks die Kleider von sich wirft. Wenn die Ungarin Georgina Szotkó danach als Superfrau die Gewichte durch die Luft wirft, wird klar, dass im Urgrund des Varieté-Genres die Welt der Jahrmarktspektakel brodelt.
Salonlöwe und Champagnerglas
Sprung in die 1920er-Jahre: Moderator Johnson verwandelt sich in einer erotischen Ankleidenummer, jaja, auch sowas gibt's, in einen Salonlöwen, der illustre Gäste empfängt. Nun sind wir im Kreis überspannter Intellektueller, die sich exzentrischen Vergnügungen hingeben – etwa dem Bad im Champagnerglas. Hoch oben wirbelt Szilvia Faludi am Luftreif – auffallend viele Artistiknummern heben hier vom Boden ab, unterstreichen damit das Luftschlossartige dieser Traumwelt. Geerdet wird man durch das Duo Forza. Die beiden Komik-Artisten führen in ihrem Slapstick-Striptease die Sache zu Ende – zeigen aber dank Handtuch- und Eimer-Artistik trotzdem (fast) nichts.
Die dritte Szene führt in die 1950er, in denen ein braver Wirtschaftswunder-Johnson in Sakko und Krawatte die Picknickdecke ausbreitet. Bis eine Rockerbraut im Leopardendress auftaucht – Louise L'Amour, die dem Jüngling mächtig einheizt. Und gleich darauf eine ganze Rockergang, alle kleine James Deans und Marlon Brandos. Wenn Miss Maeve sich hier aus Jeans und Lederjacke schält, ist das ein Frontalangriff auf die Spießergeneration. Eine Spießigkeit die vom Rollschuh-Duo Twirlin Girls auf einem schmalen Rundpodest förmlich hinweggefegt wird. Csenge Jerabek lässt ihre Kollegin Szilvia Faludi durch die Luft fliegen, dass einem der Atem stockt.
Technobeats und Reitgerte
Endstation Gegenwart: Die lauschigen Harmonien kippen in Techno-Beats, die plüschige Welt von Satin und Federboa kippt in Sadomaso. Coco Belle lässt vor einer Runde sinistrer Kapuzentypen die Hüllen fallen – wird Frau hier nicht zum Objekt? Von wegen! Sie dreht den Spieß um, macht sich die dumpfen Voyeure mit ihrer Reitgerte gefügig.
Auch in die Artistiknummern mischt sich der raue Ton der Moderne. Flurina Bartelmus und Sebastian Stamm wirbeln am Chinesischen Mast in Arbeiter-Overalls zu Industrial-Beats; Georgina Szotkó zieht wie sie das Bewegungsrepertoire ins Eckige und Bizarre, nun am Luftreif. Die Gegenwart ist da – doch die Träume von Glitzer und mondäner Erotik sind nicht weg. Anja Pavlova lässt sie aufleben wie eine Erinnerung. Eine tolle Show. (GEA)