STUTTGART. Nicht dass man die Geschichten vom Reutlinger Friedrich List (1789–1846) und der Mössingerin Anna Nill (1873–1960) vorher nie gehört oder gelesen hätte. Aber dass beide nun im Haus der Geschichte Baden-Württemberg - neben 32 weiteren Persönlichkeiten, die nach Amerika ausgewandert sind - für einige Monate gesteigerte Aufmerksamkeit erfahren, ist schon der Rede wert. »American Dreams. Ein neues Leben in den USA« heißt die große Sonderausstellung, die in Stuttgart bis zum 28. Juli 2024 zu sehen ist.
Friedrich List steht ganz am Anfang des Rundgangs, bei dem einem anhand von Originalobjekten in Verbindung mit einem mit Künstlicher Intelligenz gefütterten Digitalangebot Biografien aus drei Jahrhunderten nahe gebracht werden. Allesamt Auswanderer-Geschichten. Lists Reisemantel und Koffer, Leihgaben des Reutlinger Heimatmuseums, sind da neben einem Klagebrief von Auswanderern aus Unterheimsbach vom 3. Mai 1817 ausgestellt, zur Verfügung gestellt vom Reutlinger Stadtarchiv.
Handfeste Gründe für Auswanderung
List, so erfährt man, war als junger Finanzbeamter der Erste, der systematisch die Ursachen für eine Massenauswanderung in die USA erforschte. Dahinter steckte offenbar das Interesse seiner Vorgesetzten, durch ein Mehr an Wissen über die Gründe Menschen von der Auswanderung abzubringen, wie Franziska Dunkel, die die Ausstellung zusammen mit Christina Ziegler-McPherson kuratiert hat, sagt. Schlepper, die mit Auswanderungswilligen Geschäfte machten, gab es schon damals. Doch hatten viele, die den deutschen Südwesten verließen, auch handfeste Gründe, warum es sie ins Land der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten zog. Teuerung und Hungersnot, die auf das »Jahr ohne Sommer« 1816 folgten, etwa.
Als »Auswanderungsexperte und Zwangsmigrant« wird List in der Stuttgarter Ausstellung geführt. 1822 war er wegen seiner kompromisslosen Kritik an Missständen der württembergischen Verwaltung zu zehnmonatiger Festungshaft verurteilt worden. Unter der Bedingung der sofortigen Auswanderung wurde er im Januar 1825 aus der Haft entlassen. Er fuhr noch im selben Jahr mit dem Segelschiff »Henry« von Le Havre aus nach Amerika - und kehrte Jahre später als amerikanischer Konsul nach Deutschland zurück - nach Baden und Sachsen. Württembergischen Boden betrat er nicht mehr. Der Präsident der Vereinigten Staaten, der Demokrat Andrew Jackson, hatte dem gebürtigen Reutlinger die Unterstützung im Wahlkampf gedankt und ihn zum Konsul ernannt. Aus der Ernennungsurkunde, die in Stuttgart zu sehen ist, wurde Jacksons Unterschrift später herausgeschnitten und verkauft.
Von Lists Zeit in Amerika weiß die Schau zu berichten, dass er als Journalist, Wirtschaftsexperte und Besitzer einer Kohlengrube im Norden Pennsylvanias erfolgreich war, als Bauer jedoch scheiterte. 1830 erhielt er die amerikanische Staatsbürgerschaft. »Doch das Heimweh siegte.«
Anna Nill gelangte 1888 wohl 15-jährig mit dem Segeldampfer »Saale« von Bremerhaven in die USA. Sie ließ sich in Babylon, einem Vorort von New York, nieder und heiratete den (nicht verwandten) Bäcker Jakob Nill, der ebenfalls aus Mössingen stammte. Man mag sich heute wundern, dass sie den 1903 geborenen Sohn nach einem Bäckerstreik »Boycott« nannte. Als »spendable Kommunistin« wird sie im Ausstellungskatalog geführt. Anfang der 1920er-Jahre lebten die Nills für einige Zeit wieder in Mössingen, wo Anna Nill ein aktives Mitglied der neu gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) war.
Wohlstand durch Immobilienspekulation
Zurück in den USA wurde die Familie in den Jahren darauf durch Immobilienspekulation reich. Ihre Unterstützung für notleidende Menschen in Mössingen riss nie ab. In der Zeitung von Babylon warb Anna Nill um Spenden für ihre Heimat. 1954 schließlich überwiesen die Nills 5.000 Dollar an die Stadt Mössingen. Von einem Drittel der Zinsen sollte »jedes Jahr zur Weihnachtszeit (...) den Kleinen von der Kinderschule eine Bescherung« bereitet werden, zwei Drittel sollten an ältere Menschen gehen. Die Anna-Nill-Stiftung besteht heute noch.
Anna Nill starb 1960 in Babylon, New York, wohin in den 1950er-Jahren auch ein Foto geschickt worden war, das mehr als ein Dutzend Kinder zeigt sowie ein bekränztes Plakat mit der Aufschrift »Uns beschenkten Anna und Jakob Nill Babylon Amerika«.
Die Ausstellung »American Dreams« - den einen Traum, den jeder träumte, gab es nicht, wie die Direktorin des Hauses der Geschichte, Paula Lutum-Lenger, bei der Vorstellung der Schau sagte - weiß auch von dem bettelarmen Leidringer Bauernsohn Andreas Huonker zu berichten, der im Goldrausch in Alaska ein Millionenvermögen machte. Oder von dem radikalen Pietisten und Endzeitpropheten Georg Rapp aus dem Heckengäu, der im »gelobten Land« die Idealsiedlungen »Harmony« und »Economy« gründete.
»Wenn wir von der Karriere des armen Drechslers zum weltgrößten Spielwaren-Fabrikanten vor mehr als hundert Jahren oder von der Flucht jüdischer Deutscher vor dem Nationalsozialismus erzählen, dann schärfen wir auch den Blick auf aktuelle Themen wie die Migration, nicht nur in die USA«, sagte Lutum-Lenger.
Albert Schönhut aus Göppingen war es, der 1903 von dem mittellosen deutschen Einwanderer Fritz Meinecke für 100 Dollar die Idee zu einem neuen Spielzeug kaufte: ein beweglicher Clown mit Stuhl und Leiter. Ein ganzer sogenannter »Humpty Dumpty Circus« entstand und entwickelte sich zum Verkaufsschlager mit immer neuen Figuren. Die Gelenkfiguren waren auch in Übersee gefragt. In einer Annonce - zwei Jahre, nachdem der Zirkus auf den Markt gekommen war - wurde vor »minderwertigen Nachahmungen« gewarnt.
Die Ausstellung verschweigt nicht, dass die Ausgewanderten aus Europa von Anfang an kein »unberührtes Land« besiedelten. So gingen ihre Träume auch mit der Vertreibung und dem massenhaften Mord an den Indigenen Amerikas einher. Ein Stich zeigt eine als öffentliches Spektakel inszenierte Hinrichtung von Dakotas.
Ausstellungsinfo
Die Sonderausstellung »American Dreams. Ein neues Leben in den USA« ist bis zum 28. Juli 2024 im Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Konrad-Adenauer-Straße 16 in Stuttgart, zu sehen. Geöffnet ist Dienstag bis Sonntag sowie an Feiertagen von 10 bis 18 Uhr, Donnerstag von 10 bis 21 Uhr. Zur Ausstellung ist ein reich bebilderter Katalog erschienen (112 Seiten, 17,80 Euro). Das Deutsch-Amerikanische Zentrum Stuttgart beteiligt sich am Begleitprogramm. (GEA)
Elisabeth Fink-Henle aus Erbach überlebte im Dakota-Krieg 1862 einen Angriff von Dakota-Kriegern, bei dem 55 Menschen, darunter 17 Verwandte von ihr, getötet wurden. Laut mündlicher Überlieferung soll Elisabeth Fink-Henle vor dem Angriff gewarnt worden sein, da sie es zuvor verstanden habe, eine Nachbarschaftsbeziehung zu Dakota aufzubauen. Nachprüfen lässt sich das nicht. (GEA)