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»Freude, Freude!«: Beethovens »Neunte« läutet das Musikfest Stuttgart ein

Steven Sloane dirigiert Beethovens Neunte am Eröffnungswochenende des Musikfests der Internationalen Bachakademie Stuttgart. Und das Publikum macht Schluss mit antiquierten Applausregeln.

Stürmisch bejubelt: Dirigent Steven Sloane, Orchester, Chor und Solisten in der Liederhalle.
Stürmisch bejubelt: Dirigent Steven Sloane, Orchester, Chor und Solisten in der Liederhalle. Foto: Holger Schneider
Stürmisch bejubelt: Dirigent Steven Sloane, Orchester, Chor und Solisten in der Liederhalle.
Foto: Holger Schneider

STUTTGART. Wenn in klassischen Konzerten zwischen den Sätzen einer Sinfonie geklatscht wird, dann ahnt man, dass neues Publikum im Saal ist. Das ist das Schöne daran – in Zeiten von Publikumsschwund und -Überalterung, die wie ein Damoklesschwert über den konzertveranstaltenden Institutionen hängen. Ohnehin haben sich die steifen Applausregeln, wegen derer jeder, der sich nicht daran hält, mit bösen Blicken gestraft wird, wahrscheinlich erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausgebildet. Auf jeden Fall erst in einer Zeit, als die Distanz zwischen Publikum und denen auf der Bühne groß genug geworden war für solche merkwürdigen Verhaltensregeln.

Ein Bürgerchor für Beethoven

In Beethovens Neunter Sinfonie, die beim Eröffnungswochenende des Stuttgarter Musikfests im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle von den Stuttgarter Philharmonikern aufgeführt wurde, klatschten Menschen zwischen den Sätzen. Und das Publikum war, vor allem in der Altersstruktur, wesentlich gemischter als sonst in solchen Konzerten. Das lag wohl daran, dass sich die veranstaltende Internationale Bachakademie ein knitze Idee ausgedacht hatte. Nämlich den im Finale benötigten Chor mit Stuttgarter Bürgern und Bürgerinnen, also Laienchoristen, zu füllen. Die mischten sich im 150-köpfigen Chor mit den Profis der Gaechinger Cantorey. Offenbar hatte dieser Bürger- und Bürgerinnenchor eine Menge eigenes Publikum ins Konzert gelockt.

Steven Sloane in Aktion bei der Aufführung von Beethovens Neunter.
Steven Sloane in Aktion bei der Aufführung von Beethovens Neunter. Foto: Holger Schneider
Steven Sloane in Aktion bei der Aufführung von Beethovens Neunter.
Foto: Holger Schneider

So war das große Haus ausverkauft, und es herrschte vor Beginn im Foyer ein fröhlich-angeregtes Gewusel. Beethovens Neunte ist ohnehin stets ein Publikumsmagnet und erklingt deshalb viel zu oft (nicht nur) in Stuttgart. Aber kurz vor der Europawahl und 200 Jahre nach ihrer Uraufführung geht es in Ordnung, wenn man die Wählerinnen und Wähler musikalisch noch einmal an den europäischen Wertespruch »Freiheit, Gleichheit, Solidarität« erinnert, um den es Beethoven in seiner Neunten ging: ein radikaler Gegenentwurf zur eigenen desolaten politischen Realität der Restauration, die liberale und demokratische Bestrebungen unterdrückte und alle Hoffnungen auf bürgerliche Rechte erstickte. Beethoven, ein politischer Komponist, schrieb seine Neunte ja als ein Appell an die Menschen, eine neue, bessere Gesellschaftsordnung zu begründen und in alle Zukunft zu erhalten.

Ersatzdirigent als Glücksfall

Mit Steven Sloane hatte man einen prominenten Ersatz gefunden für den erkrankten Dan Ettinger. Ein Glücksfall, dieser Dirigent, der nach Jahren als vielfach ausgezeichneter Chefdirigent der Bochumer Sinfoniker seit 2020 das Jerusalem Symphony Orchestra leitet. Sloane ist ein Mann ohne Allüren, auswendig dirigierend und ohne Taktstock, im Dienst der Sache, der die Dinge auch mal laufen lassen kann, wie im Scherzo. Dem es mühelos gelingt, den Spannungsbogen und die ungeheure musikalische Dynamik dieser erschütternd ausufernden Sinfonie zu bündeln und stringent auf die populäre »An die Freude«-Ode als Ziel hinzuführen - straff, in zügigen Tempi (denen die Philharmoniker nicht immer hundertprozentig genau folgen konnten).

Eine packende Aufführung: Vom düster auftrumpfenden Kopfsatz über das exaltierte, vorwärtstreibende, dämonische Scherzo und das kantable, weihevolle, schmerzliche Adagio bis hin zum grell-dissonant beginnenden unruhigen Finale, das endlich das Ziel der Sinfonie erreicht: Beethovens Plädoyer für eine neue, humanere Gesellschaft. Der mächtige Chor, in dem die Frauenstimmen deutlich hörbar in der Überzahl waren, war gut vorbereitet, um seine so unkomfortabel gesetzte Partie samt der Hochtonkanonaden der Soprane angemessen umzusetzen. Und das Gesangsquartett mit Christina Landshamer (Sopran), Dorottya Láng (Alt), Maximilian Schmitt (Tenor) und Matthias Winckhler (Bass) lieferte solistisch solide Arbeit und harmonierte gut. Applaus nun endlich vom gesamten Publikum. (GEA)