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Freiluft-Projekt »Stuttgart. Ein Traum«: Klischee, lass nach!

Für das Freiluft-Projekt »Stuttgart. Ein Traum« kooperieren die Schauspielbühnen mit Akademie und Staatsgalerie.

Amelie Sturm als Wilhelmine von Grävenitz in »Stuttgart. Ein Traum«. FOTO: MARTIN SIGMUND/SCHAUSPIELBÜHNEN IN STUTTGART
Amelie Sturm als Wilhelmine von Grävenitz in »Stuttgart. Ein Traum«. FOTO: MARTIN SIGMUND/SCHAUSPIELBÜHNEN IN STUTTGART
Amelie Sturm als Wilhelmine von Grävenitz in »Stuttgart. Ein Traum«. FOTO: MARTIN SIGMUND/SCHAUSPIELBÜHNEN IN STUTTGART

STUTTGART. Ist Stuttgart wirklich noch so spießig? Ja, es gibt sie noch, die Kehrwoche. Aber nicht mehr in allen Wohnhäusern. Ja, es gibt sie noch, die Spätzle-Esskultur, das Griebenschmalz und die Butterbrezel. Aber gehen die Stuttgarterinnen und Stuttgarter nicht auch mit Vorliebe zu ihrem Lieblingsitaliener an der Ecke? Und ist das Stadtbild wirklich noch so heteronormativ geprägt, wie es uns das neueste Theaterprojekt der Stuttgarter Schauspielbühnen vorgaukelt?

Nach Ende der Premiere von »Stuttgart. Ein Traum« geht man jedenfalls mit großen Fragezeichen im Kopf seiner Wege. »Eine szenische Stadterkundung« nennen die Schauspielbühnen ihre Freiluft-Produktion in der Rotunde der Staatsgalerie. Die Spielstätten der Schauspielbühnen sind pandemiebedingt noch geschlossen.

Werwölfe heulen

»Stuttgart. Ein Traum« ist ein Projekt, das Intendant Axel Preuß euphorisch als »Abend für Stuttgart!« angekündigt hat. Aber was dieser bietet, ist vor allem eins: eine bunte Revue durch sämtliche Stuttgart-Klischees. Es soll gelacht werden über aufdringlich-neugierige Vermieter, die ihre Schlüsselgewalt nicht aufgeben wollen, über die Stäffele-Dichte, über die Halbhöhenbewohner-Arroganz, die miefige Kessellage, das Schaffe-schaffe-Häusle-bauen-Syndrom, akribische Verbotsordnungen und so weiter.

Dazwischen treten berühmte »Geister der Vergangenheit« auf, vornehmlich Männer: etwa Manfred Rommel, Nikolaus Lenau, Eduard Mörike oder Samuel Beckett, der 1965 für eine SDR-Produktion in Stuttgart weilte und ein Gedicht schrieb auf die Neckarstraße: »Der Anreiz des Nichts ist dort nicht mehr das / was er einmal war, weil man eben / den sehr starken Verdacht hat / mitten darin zu sein.«

Die Zitatenliste, aus der sich der Spieltext zusammensetzt, ist lang. Eine Stückentwicklung ist das, was Klaus Hemmerle (Regie) und Christian Schönfelder (Autor) gemeinsam mit sieben Schauspielerinnen und Schauspielern – Profis und Absolventen des Schauspiel-Studiengangs der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart – erarbeitet haben. Ein Projekt, das vom Land gefördert wird durch das Impulsprogramm »Kunst trotz Abstand«.

Die Rotunde ist ein attraktiver Sommer-Spielort, keine Frage, so zwischen Skulpturen antiker Figuren sitzt es sich gut. Um die Rotunde herum schmiegt sich der Zugang von der Urbanstraße hinunter zum Museum und kann als Galerie bespielt werden. Die museumsinternen Treppen ebenso. Das wird ausgiebig getan an diesem kühlen, feuchten Abend. Werwölfe heulen dort um die Wette – was auch immer diese Spezies mit Stuttgart zu tun hat (Kostüme: Petra Kupfernagel). Das Ensemble macht seine Sache gut. Alle switchen durch unterschiedliche Rollen, werfen sich spielwütig ins Geschehen – auch im Rössle-Tanz, in dem eine Riesenpferdepuppe in ihre Einzelteile zerlegt wird, die dann ein Eigenleben beginnen.

Kommentare zur Wohnungsnot

Eduard Zhukov macht was her als Hölderlin, dessen Gedicht »Wieder ein Glück ist erlebt. Die gefährliche Dürre geneset« er so klangvoll rezitiert. Aber warum muss er sich vorher Eiswürfelwasser über den Kopf schütten à la »Ice Bucket Challenge«?

Eigentlich verleiht Amelie Sturm, die auch über ein musicalgeschultes Singorgan verfügt, ihren vielen Frauen-Rollen ein handfestes Selbstbewusstsein. Aber warum muss sie als Wilhelmine von Grävenitz, Mätresse des Herzogs Eberhard Ludwig, einen Text singen wie »Die Männer muss man loben, dann bleiben sie oben, danke für die Blumen von der Tanke«? Biederer geht’s nimmer. Begleitet wird sie dabei von Reinhold Weiser am Keyboard, der auch ansonsten für die musikalische Untermalung sorgt, aber auch in der Rolle des witzelnden Stararchitekten James Stirling zu sehen ist, der die postmoderne Neue Staatsgalerie zu verantworten hatte. Und dann sind da noch diese fünf hysterischen Clowns mit bunten Perücken und Knubbelnasen im Gesicht, die mit nervend quietschenden Stimmen Kommentare zu Wohnungsnot, Bahnhofsbau oder fehlenden Grünflächen ablassen.

Aber wo bleibt sie, die Diversität, die Stuttgarts Stadtgesellschaft längst prägt und modern macht? Sie scheint ein paar Mal sachte auf: Wenn das Ensemble plötzlich in andere Sprachen switcht: Türkisch, Italienisch, Englisch oder Kasachisch spricht. Dann offenbart sich ein bisschen von dem Geist, der Stuttgart zur Musterstadt der Integration gemacht hat. (GEA)