TÜBINGEN/REUTLINGEN. Es ist eine besondere Ausgabe der Französischen Filmtage, die am Mittwochabend im Tübinger Kino Museum gestartet ist, live übertragen ins Kamino nach Reutlingen: Der alte Chef Christopher Buchholz ist weg, die neue Festivalleiterin Lisa Haußmann noch nicht im Amt (sie war immerhin im Saal) - also liegt die Sache diesmal in den Händen eines ehrenamtlichen Interimsteams. Wobei viele schon bisher dabei waren: Bärbel Mauch als Mitglied der Programmkommission - diesmal als Programmdirektorin. Und Stefanie Schneider, Vizevorsitzende der Filmtage Tübingen e. V., ist schon seit Jahren die patente Zeremonienmeisterin der Eröffnungsgala - was sie auch am Mittwochabend charmant und schlagfertig erledigte.
Den Eröffnungsfilm hätte auch ein Christopher Buchholz nicht passender aussuchen können. Bärbel Mauch hatte sich in den Streifen bei den Filmfestspielen in Cannes verliebt - mit Grund, wie sich zeigte. Ein an Leukämie erkrankter Stardirigent aus Paris gerät auf der Suche nach einem Stammzellspender an einen Dorfposaunisten in der nordfranzösischen Provinz, der sich als sein bisher unbekannter leiblicher Bruder entpuppt.
Tragik und Humor in der Schwebe
Regisseur Emmanuel Courcol macht daraus keinen überzeichneten Culture-Clash-Slapstick, sondern verfolgt die Charaktere mit großer Genauigkeit und immensem Einfühlungsvermögen. Das Humorvolle und das Tragische bleibt bei ihm stets in der Schwebe. Dem zum Schmunzeln anregenden Kontrast zwischen dem verfeinerten Städter und dem eigenbrötlerischen Landei steht die Tragik ihrer Trennung als Kleinkinder gegenüber, die jedem von ihnen unterschiedliche Chancen gab. Courcol bettet das ein in den größeren gesellschaftlichen Konflikt der drohenden Schließung der örtlichen Fabrik, wogegen die Belegschaft einen aussichtslos scheinenden Kampf führt.
Über alldem liegt die Musik als wundersame Kraft, ob als düster-tragische Egmont-Ouvertüre Beethovens, ob als berührendes Adagio aus Mozarts Klavierkonzert Nr. 23 A-Dur oder als beschwingter Blaskapellen-Sound. Eine Kraft, die die Milieus von Stadt und Land, Hochkultur und Arbeiterschicht zunächst zu trennen scheint - und die dann doch über die Gräben hinweg zu berühren vermag.
Eröffnung ohne Chef
Berührt wurde das Publikum in Reutlingen wie Tübingen jedoch erst einmal von der Eröffnungsgala. Die war passend zum Interimsjahrgang ihrerseits ohne Chef: OB Boris Palmer musste krankheitsbedingt passen. Was der noch recht neuen Kulturbürgermeisterin Gundula Schäfer-Vogel einen Auftritt bescherte. Französisches gehöre zur DNA Tübingens, befand sie im Gespräch mit Moderatorin Stefanie Schneider - vom Französischen Viertel über die französische Partnerstadt bis zum Deutsch-französischen Kulturinstitut. Schaufenster des frankophonen Kinos zu sein, tue der Stadt gut.
Schäfer-Vogel und Schneider unterstrichen das mit der Eleganz ihrer Garderobe. Schneider hatte als Motto ausgegeben, Tübingen müsse glänzen. Schneider und Interims-Programmdirektorin Bärbel Mauch glitzerten denn auch um die Wette. Beim Publikum sah Schneider in Sachen Glamour Luft nach oben. Das alles kontrastierte zum Kino selbst, das im Moment saniert und umgebaut wird, wofür es viel Lob für Carsten Schuffert und Robert Weihing gab, die hinter dieser Neubelebung stehen.
Botschaft von Nicolas Philibert
Per Videobotschaft wurde Ehrengast Nicolas Philibert zugeschaltet, der seine Co-Regisseurin Linda De Zitter mit dazugeholt hatte. Sie gaben einen Vorgeschmack auf die drei beim Festival gezeigten Filmdokus von Philibert, an denen teils auch De Zitter beteiligt war. Ihr Lieblingsthema ist der Alltag in psychiatrischen Einrichtungen. Philibert: »Die Psychiatrie geht uns alle an!«
Der französische Konsul in Stuttgart, Gaël de Maisonneuve, lobte die deutsch-französische Zusammenarbeit bei den Olympischen Spielen (Deutschland hatte Polizeikräfte geschickt). Carl Bergengruen, der Geschäftsführer der Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg MFG brach eine Lanze für die Förderung des Nachwuchses bei Filmschaffenden wie Kinobesuchern. Die Überleitung zum Eröffnungsfilm besorgten Produzent Marc Bordure und Musikchef Michel Petrossian. Letzterer sah in dem Brüderdrama auch die deutsch-französische Freundschaft. Petrossian hatte nicht nur dafür gesorgt, dass die Probenszenen im Film enorm echt wirken, sondern auch selbst eine Komposition beigetragen, die am Ende wichtig wird. Und dann hieß es mit Marc Bordure: »Le festival est ouvert!« (GEA)