REUTLINGEN. »Kreuzverhör - das ist der beste Teil. Purer Instinkt.« Im Ein-Frau-Stück »Prima Facie« von Suzie Miller teilt eine Strafverteidigerin, Tessa Ensler, ihre Vorstellungen von einer erfolgversprechenden Zeugenbefragung im Gerichtssaal mit dem Publikum. Sich verwirrt geben, den Zeugen spüren lassen, dass er die Kontrolle hat, gehört dazu. Um dann - »Peng!« - Fragen wie Schüsse abzufeuern, die ihn in die Enge treiben, ihn verunsichern, bei deren Beantwortung er sich in Widersprüchen verstrickt.
Tessa Ensler wendet das nicht zuletzt gegen Frauen an, die Mandanten von ihr wegen sexueller Übergriffe angezeigt haben. Eine Retraumatisierung der Klägerinnen nimmt sie in Kauf, solange das Urteil im Sinne ihrer Mandanten ausfällt. Verteidigung sei nun mal ihr Job. Einer, bei dem das Ergebnis zähle.
Als Zeugin im Gerichtssaal
Die Schauspielerin Christina Thiessen verkörpert diese Tessa Ensler als ausgebufften Profi. Einen, der schon im Studium darauf getrimmt wurde, Biss zu zeigen. In Millers packendem Monolog, von Susanne Frieling am Theater Baden-Baden auf die Bühne gebracht und jetzt zum Monospektakel des Theaters Die Tonne nach Reutlingen eingeladen, erlebt man sie als Strafverteidigerin, die eine Affäre mit einem Kollegen beginnt. Doch aus einer romantischen Date-Night wird ein Horrortrip für die junge Frau. 782 Tage danach sitzt sie als Zeugin ihrer eigenen Vergewaltigung im Gerichtssaal. Und erlebt das Trauma jener Nacht noch einmal.
Millers Monolog - die australisch-britische Dramatikerin hat selbst als Strafverteidigerin mit Fokus auf Fälle der sexuellen Nötigung gearbeitet - ist ein Plädoyer dafür, sensibler mit der Wahrheitsfindung umzugehen. Tatsächlich haben das Theaterstück und der auf ihm basierende Roman im Kontext der MeToo-Debatte zu juristischen Änderungen geführt. In Großbritannien gab es einen neuen Leitfaden für Jurys, im britischen Yorkshire wurden 3.000 Polizisten verpflichtet, sich das Stück anzusehen. Nicht zuletzt war und ist es Anstoß, über »Ja heißt Ja« zu diskutieren, also darüber, dass eine explizite Einwilligung als Zeichen der Einvernehmlichkeit bei sexuellen Handlungen nötig ist.
Umgang mit der Rolle
Christina Thiessen beeindruckt mit ihrem intensiven Spiel, das wiederholt das Publikum mit einbezieht. Man leidet mit Tessa Ensler, die, nach dem, was ihr angetan wurde, ihre Stimme wiederfinden muss. Ihr Körper wehre sich mit jeder Vorstellung mehr, in diese Rolle zu schlüpfen, kam die Schauspielerin im Nachgespräch auf einen inneren Konflikt zu sprechen. »Man muss darauf achten, die eigene Psyche gesund zu halten.« Sie tue das, indem sie sich an das Ritual von Regisseurin Susanne Frieling halte und sich mit Blick auf die Rolle frage: »Was nehme ich mit? Was lasse ich hier?« Im Probenprozess habe ihre Antwort auf die erste Frage zum Beispiel oft gelautet: »Dass es eine produktive Probe war.« (GEA)