STUTTGART. »Die Vernünftigen werden nicht an die Macht kommen«, sagt Fabian, Erich Kästners lakonischer Titelheld. Das Berlin der 1930er-Jahre lässt uns einfach nicht los, im Stuttgarter Schauspiel hatte nun die Dramatisierung des Großstadtromans aus der Weimarer Republik in seiner neuen, 2013 erschienenen und erweiterten Fassung Premiere – vielleicht müssen wir einfach immer wieder als Warnung sehen, wie die erste Demokratie auf deutschem Boden damals ihrem Ende zutaumelte.
Als Werbetexter arbeitet der Protagonist Jakob Fabian im brodelnden Berlin und schwimmt als ironischer, seltsam unbeteiligter Beobachter im enthemmten Strudel des Nachtlebens mit. Der ungarische Regisseur Viktor Bodó macht im Schauspielhaus ein fast surreales Ereignis aus der feinen Ironie des Romans, einen hochtourigen Tanz auf dem Vulkan, für den er »Babylon Berlin« und »Cabaret« gleich mit durch den Mixer dreht, virtuos im Zusammenspiel von Sprache, Musik, Bewegung.
Descartes trifft per Aufzug ein
Munter, zuweilen im Sekundentakt, springt seine Inszenierung von Ebene zu Meta-Ebene, noch eins weiter und wieder zurück: Nicht nur sprechen die Figuren meist in der dritten Person über sich selbst und erzählen so auf eine distanzierte, zum Protagonisten passende Weise die Handlung, sie fallen auch immer wieder aus der selbigen heraus: Plötzlich sind wir in einer Probensituation, im Film, im Schattenspiel, in einer psychedelischen Revue. Da stolpert ein blöder Witz aus den Seitenkulissen rein und zieht sich umgehend zurück, als wäre er sich selbst peinlich, der Philosoph Descartes trifft per Aufzug ein, wirft ein Bonmot unters Volk und geht ab.
Das Ensemble tobt durchs Auditorium, immer wieder geht das Licht an, Bodó veranstaltet das Gegenteil von kargem Minimalismus: Der Abend ist grell, exzentrisch, wirr und oft sehr lustig. Gegen die sexuelle Befreiung mit all ihren schönen, nackten und schrecklichen Seiten, gegen die fröhliche Verderbtheit Berlins kommt in der Bühnenfassung von Júlia Róbert und Anna Veress der politische Kampf zwischen Kommunisten und Faschisten vielleicht doch zu kurz.
Zwischen Arbeitslosigkeit und einer haltlosen Flucht ins Vergnügen entsteht in Kästners sprachlich so großartigen Dialogen das Porträt einer liberalen Demokratie, die kaum erkämpft und darum vielleicht auch nicht verteidigt wurde.
Wie ein surrealer Traum
Das Tempo ist oft irrwitzig, manchmal potenziert sich das Geschehen wie zu einem surrealen Traum. Und dann nimmt der Regisseur plötzlich die Dynamik heraus, etwa wenn Fabian und seine Liebste wie Romeo und Julia auf einem winzigen Absatz hoch über der Szene sitzen und sich küssen, oder am Schluss, wenn der Protagonist zusammenbricht, weil er nacheinander die Geliebte und den besten Freund verloren hat. Der distanzierte Beobachter Fabian, der alles mit Ironie ertragen hatte, verliert endlich die Fassung – manchmal kann man in der stoischen Ruhe, mit der Gábor Biedermann ihn spielt, die innere Verzweiflung schon spüren.
Aus dem großen, einsatzfreudigen Ensemble ragen Paula Skorupa als natürliche und später so kalte Freundin Cornelia, der elegante Felix Strobel als Freund Labude, Sylvana Krappatsch als desillusionierte, breitbeinig dahertackernde Nachtclubsängerin und David Müller als überdrehter Kellner heraus.
Jede Figur hat ihren Tick, die Schauspieler dürfen die Clowns und Exzentriker rauslassen und zeigen großartiges Timing in jeder Absurdität. Zu Beginn des zweiten Aktes sitzen alle vorne auf der Rampe, Bodó choreografiert ihren kleinen Erzählchor bis in jedes Detail, die Geräusch- und Echoeffekte, das Schnippen und Schnalzen. Mit Klaus von Heydenabers jazzigen Klängen, die so viele Szenen begleiten, mit Liedern von Erich Kästner oder Friedrich Hollaender ist es eine sehr musikalische und auch tänzerisch bewegte Inszenierung.
»Ich saß in einem großen Wartesaal und der hieß Europa«, sagt Fabian in seiner Abschiedsrede: Erich Kästner sieht bereits 1930 das Verderben heraufziehen, den nächsten Krieg, und das fühlt sich dann doch beängstigend aktuell an. »Lernt schwimmen« steht als letztes Motto hoch über der Bühne, Kästners tragikomische Überschrift über dem letzten Romankapitel und die Anweisung, nicht fatalistisch alles hinzunehmen, es nicht beim guten Willen zu lassen, sondern zu handeln. (GEA)
Weitere Termine: 21., 22., 23. März, 14., 15. April, 8., 26. Mai