STUTTGART. Unter den Saitenzauberern bekommen die Hochgeschwindigkeits-Artisten besondere Aufmerksamkeit. Der Australier Tommy Emmanuel ist so einer. Sein Wohnsitz ist Kalifornien. Aber was heißt Wohnsitz. Gut 300 Tage im Jahr ist er auf Tour und verblüfft die Fans mit seiner Technik.
Das Konzert im Herbst vorigen Jahres im Stuttgarter Theaterhaus musste abgesagt werden. Emmanuel war bei einem Auftritt gestürzt und hatte sich eine Rippe gebrochen. Nach der kleinen Zwangspause präsentierte sich der Künstler, der demnächst 70 wird, in bester Form und wie gewohnt mit halsbrecherischen Läufen auf dem Griffbrett und sechs Saiten – ließ aber ansonsten Vorsicht walten.
Mit Qualitäts-Siegel
Früher nannte man das mal Fingerpicking. »Country Gentleman« Chet Atkins hat Emmanuel jedoch attestiert, dass er dies über zuvor bekannte Grenzen hinaus weiterentwickelt hat, und ihm den Titel »Certified Guitar Player« verliehen. Das Qualitäts-Siegel der obersten TÜV-Instanz ist Emmanuel wichtig. Auf Plakaten findet sich hinter seinem Namen gern der Hinweis »CGP«.
Dass Atkins nicht daneben lag, bekommt das Publikum im Theaterhaus von der ersten Sekunde an vorgeführt. Emmanuel spielt gerne wild, bei Titeln wie »Sixteen Tons« und dem »Deep River Blues« singt er auch. Tempolimits kennt er nicht, zwischendurch kündigt er an, er werde noch einen Gang hochschalten.
Drum-Solo und a cappella
Vom guten alten Folkblues ist das schon so weit entfernt wie ein Oldtimer von einem Formel-Eins-Boliden. Und die Traditionalisten schütteln die Köpfe, wenn er ein heftiges »Drum-Solo« einstreut. Mit Fingern und Händen und Hilfsmittel wie einem Schlagzeug-Besen bearbeitet er Korpus und Griffbrett so, dass man sich fragt, ob das Instrument diese Einlage unversehrt überstehen wird.
Weniger später legt das Arbeitsgerät beiseite und singt a cappella über das Glück, so einen Job zu haben und tun zu können, was einem wirklich Spaß macht (»Today Is Mine«). Die Rolling Stones-Fans führt er in die Irre, indem er fragt, ob Fans im Publikum sind. Nach dem vielstimmig »Aber sicher doch« spielt er stattdessen eines seiner Beatles-Medleys mit unter anderem »I Feel Fine«, »Day Tripper« und »While My Guitar Gently Weeps«. »Lady Madonna« ist auch dabei, das hat Kollege Marcel Dadi früher allerdings mit mehr Gefühl rübergebracht. Im Finale des Medleys wechselt der Saiten-Meister von den Beatles zu »Classical Gas«.
In die grandiose Demonstration der Fingerfertigkeit werden mehrmals ganze Flageolet-Kaskaden eingestreut. Sein meistgestreamter Titel »Questions« ist erstaunlicherweise etwas ruhiger. Und zur Zugabe bittet er Support-Act Mike Dawes auf die Bühne, dessen Stil erkennbar von ihm beeinflusst wurde. Im Duo gibt’s Stücke von Sting und Nirvana (»Smells Like Teen Spirit«). Das, finden manche, ist der schönste Moment des Abends. (GEA)