REUTLINGEN. Sie ist nicht nur der Stargast der Französischen Filmtage, zum 40-jährigen Festival-Jubiläum wird Emmanuelle Devos auch mit sechs Filmen in einer Retrospektive geehrt. Den Film »Un silence« (Das Schweigen) stellte die französische Schauspielerin im Reutlinger Kino Kamino persönlich vor. Sie spielt darin die Ehefrau eines Rechtsanwalts (Daniel Auteuil), die nach 30 Jahren ihr Schweigen über ein dunkles Familiengeheimnis bricht.
Sie sieht immer noch umwerfend aus, mit ihren tiefen dunklen Augen und einem Lächeln, das sich nie zu fein ist für das pralle Leben. Für ihre Präsenz und ihre Fähigkeit, sich in jede ihrer Rollen, so unterschiedlich sie auch sein mögen, einleben zu können, wird die 59-jährige Schauspielerin vom Publikum gleichermaßen wie von Kritikern und Kollegen hochgeschätzt. Seit Mitte der 80er-Jahre hat Emmanuelle Davos allein in über 60 Film- und Fernsehproduktionen mitgewirkt. Zudem gewann sie für ihre Hauptrolle in dem Thriller »Lippenbekenntnisse« und ihre Nebenrolle in dem Drama »Der Retter« jeweils den französischen Filmpreis César. Dabei habe sie sich nie die Frage gestellt, ob sie Schauspielerin werden möchte: Das habe sich einfach so ergeben, so die bekannte Aktrice in einem Interview.
Ganz anders als in ihrem Film »Un silence« (Das Schweigen) gibt sie sich nach der Vorstellung beim Publikumsgespräch redselig und weiß sich stets ins rechte Licht zu rücken: Hier ein charmantes Lächeln für das Lob eines Besuchers, dass sie mit ihrer sparsamen Mimik so viel ausdrücken könne. Dort ein tiefgründiges Sinnieren über die Frage, ob sie nach den Dreharbeiten Verständnis für die von ihr gespielte Astrid gehabt habe: »Das Phänomen, manche Dinge einfach nicht wahrhaben zu wollen und die Frage, was man selber in dieser Situation gemacht hätte, haben mich tatsächlich sehr beschäftigt«, so Emmanuelle Devos, »Und ja, ich kann die Astrid im Film irgendwie verstehen, wenn ich mich auch nicht mit ihr identifizieren möchte«.
Kühle und strenge Bilder
Der Film des belgischen Regisseurs Joachim Lafosse schildert in kühlen und strengen Bildern ein Familiendrama, das auf den realen Fall um den Lütticher Rechtsanwalt Victor Hissel zurückgeht. Mit François (Daniel Auteuil) und Astrid (Emmanuelle Devos) steht ein gut situiertes Ehepaar im Zentrum, das seit etlichen Jahren ganz automatisch alles beiseite schiebt, was zu dicht an die Wahrheit herankommt. Auch die Beziehung zu ihren beiden Kindern Caroline (Louise Chevillotte) und Raphael (Matthieu Galoux) ist von schweigender Verdrängung und kühler Distanz geprägt und wird von einem dunklen Familiengeheimnis überschattet.
In langen Rückblenden arbeitet der Film das Verhalten der Beteiligten auf, bis zu dem Zeitpunkt, als François, Astrid und Raphael nach einer Hausdurchsuchung, bei der kinderpornografisches Material gefunden wird, von der Polizei verhört werden. Die Fassade des bekannten Anwalts und der gesamten Familie bröckelt aber schon lange davor, denn der (Adoptiv-)Sohn Raphael, der als Einziger nichts von dem übergriffigen Vorfall seines Vaters weiß, möchte das Schweigen endlich aufbrechen und wissen, was vor 30 Jahren vorgefallen ist. Ihm und seiner längst ausgezogenen Schwester reicht die Aussage seiner Mutter »Wir sind alle drüber weg« nicht, und als er es schließlich doch von ihr erfährt, passiert eine weitere Tragödie.
Hervorragende Schauspieler
»Un silence« ist ein bedrückender und gleichzeitig aufwühlender und starker Film, der vor allem von den hervorragenden Schauspielern lebt und denjenigen, die ihn gesehen haben, nicht so schnell aus dem Sinn gehen wird. (GEA)