REUTLINGEN. Der Liederabend galt zeitweise als verstaubt. Doch neuerdings nehmen sich junge Künstler des Genres an und bringen frischen Wind in die Sache. Sopranistin Carlotta Lipski und Pianistin Magdalena Wolfarth machten aus der Gattung am Freitagabend bei Musica Nova im Kunstmuseum/konkret in den Wandel-Hallen eine feministische Performance. Und die war witzig, fantasievoll, teils schockierend aktuell.
Einmarsch mit Sufragettenlied
Von hinten marschieren sie herein, den Sufragetten-Marsch der Britin Ethel Smyth (1858–1944) auf den Lippen. Jenen Marsch, den Smyth 1912 mit ihren Schicksalsgenossinnen im Gefängnis anstimmte. Wo sie gelandet war, weil sie bei einer Demo fürs Frauenwahlrecht eine Scheibe einwarf. Lipski und Wolfarth verteilen zu ihrem »March of the Women« 50er-Jahre-Reklame ans Publikum, Marke »Heimchen am Herd«. Sie selber stecken in einem roten (Wolfarth) und leuchtend grünen (Lipski) Kleid, das ironisch zwischen Biedermeier und Fantasy vermittelt.
Von den Frauen-Klischees der Nachkriegszeit geht es zur Herabsetzung des Weiblichen im Internet. Mit Musik der Norwegerin Cecilie Ore (*1954) schleudert Lipski den Inhalt frauenverachtender Hassmails hinaus. Was sich zu dämonischen Gewaltfantasien steigert. Furios, wie Lipski die ungebremste männliche Wut gegen das Weibliche explodieren lässt!
Hommage an Komponistinnen
Nach dieser Schocktherapie schweifen Lipski und Wolfarth zu Frauen der Geschichte, die allen Hindernissen zum Trotz komponierten. Emilie Mayer, Josephine Lang, Alma Mahler: Zart und voller Nostalgie erklingen ihre Lieder zwischen den grellen Stücken moderner Komponistinnen. Mit der 1980 geborenen Manuela Kerer schreit Lipski die Wut Alma Mahlers hinaus, als ihr Mann Gustav Mahler, ihr das Komponieren verbietet.
Versöhnlich wird es in dem anschmiegsam zwischen Spätromantik und Musicalton schwebenden Lied »Wedding« der Südafrikanerin Kathleen Tagg. Verträumt raunt das Klavierstück »Moon« von Cecilia Livingston unter den Fingern von Magdalena Wolfarth. Ehe Lipski mit Carola Bauckholt die Schnarchgeräusche einer alten Frau zur kunstvollen Performance macht.
Zwischendurch berichten Interviewpartnerinnen vom Band, was es für sie heißt, Frau zu sein. Am Ende falten die Musikerinnen aus der Heimchen-am-Herd-Reklame Papierschiffchen und verteilen sie ans Publikum, Jennifer Walshes knappe, mit Klischees spielende »Folk Songs« auf den Lippen. Die alten Klischees, sie haben ausgedient. Der Liederabend ist in ein neues Zeitalter aufgebrochen. Phänomenal! (GEA)