REUTLINGEN. Wie kommt man als Museum mit Sammlungs-Schwerpunkt Holzschnitt an Arbeiten junger Künstler heran? Künstler, die vielleicht (noch) gar nicht wissen, dass es diese Institution gibt? Am Kunstmuseum Reutlingen hat man es mit einer Ausschreibung versucht. Auf Deutsch und Englisch ging der Ausruf hinaus: »Neue Holzschnitte gesucht!« Oder: »Wanted: Woodcuts!« Verbunden mit dem Hinweis, dass man zehn der eingereichten Werke ankaufen würde.
Kommt auf so etwas Resonanz? Museumsleiterin Ina Dinter und ihr Team waren gespannt. Die Reaktion übertraf alle Erwartungen. 256 Künstler bewarben sich. Lange brütete im Spätherbst 2020 die Jury: neben Ina Dinter auch Rainer Lawicki und Ralf Gottschlich, der das Museum inzwischen verlassen hat. Angesichts der Qualität der Arbeiten entschied man, nicht nur zehn, sondern 21 Arbeiten anzukaufen. »Etwas Spielraum ist ja immer da«, so Dinter. Mehr wäre schön gewesen, mehr gab aber der Etat nicht her.
21 Arbeiten angekauft
Alle 21 angekauften Arbeiten sind von Samstag an bis im März in der Kunstmuseums-Galerie im Untergeschoss der Wandel-Hallen zu sehen. Die vom stellvertretenden Museumsleiter Lawicki kuratierte Schau stellt die Neuerwerbungen Werken der Sammlung gegenüber, deren Teil sie nun werden. Die neuen Arbeiten hängen an der Wand, die Sammlungsstücke sind in Vitrinen zu sehen.
Gewandelt hat sich der Raum. Zwei Wände wurden eingezogen. Dadurch ist die ursprünglich schier endlose Flucht der Säulenhalle in drei Bereiche gegliedert. Der Saal hat seine grandiose Tiefe verloren – aber die einzelnen Bereiche wirken nun intimer und wohliger. Und es gibt, das war ein Hauptgrund für die Maßnahme, mehr Fläche, um Bilder zu hängen. Die Zwischenwände sind zwar abbaubar, sollen aber erst einmal so bleiben.
Das Spektrum der neuen Werke ist enorm. Sehr experimentell die Arbeit des in Deutschland lebenden jungen Koreaners Sung-Ho Jo. In eine rohe Holzplatte, deren Maserung erkennbar bleibt, hat er Buddha-Worte geschnitten. Vielfach abgedruckt, mal in sattem Schwarz, mal nur mit einem Hauch von Farbe, hängen die Blätter nun wie ein Mobile im Raum.
Den weitesten Weg hatte die Arbeit der Kolumbianerin Natalia Mejía Murillo. Die 15 Einzelquadrate aus Bogotá nach Reutlingen zu schaffen, erwies sich als Abenteuer für sich: Teils sind es mit Tusche beschichtete hölzerne Druckplatten, teils hochempfindliche Grafit-Abzüge auf Papier. Wie die Künstlerin das Grafit auf die Blätter gebracht hat, ist selbst Lawicki ein Rätsel. »Da muss ich sie mal fragen!« Die 15 Quadrate zeigen teils Grundrisse aus Bogotá, teils Sternbilder.
Käferfraß und Schaltkreise
Nur wenige rein abstrakte Arbeiten sind in der Auswahl, darunter eine Farbfeldkomposition von Jennifer König. Meist haben auch die abstrakten Arbeiten einen »realen« Bezug: Renate Behla lässt sich von Fraßspuren des Borkenkäfers inspirieren; Mathias Hornungs Farbholzschnitt spielt auf Schaltkreise eines Computerchips an. Florian Huth »übersetzt« Strukturen aus historischen Bildern in reduzierte Linienkompositionen.
Die »realistischen« Darstellungen haben hingegen fast immer einen Hintersinn. Anibal M. Kostka porträtiert einen Ex-Studienkollegen martialisch in der Größe, aber kindlich im Ausdruck – mit einem riesigen Teddybären im Arm. Umso aggressiver direkt gegenüber Franca Bartholomäis protestierende Frau mit Katzenmaske und Stein in der Hand. Für was protestiert sie? Gegen wen? Die Szene bleibt rätselhaft.
Jan Prokof kombiniert in einem Porträt zwei historische Kupferstiche: ein weißer Söldner und ein Stammeshäuptling in Brasilien verschmelzen zu einer Person. Fast fotorealistisch bannt Christine Ebersbach ein Haus am Kanal (in Venedig?) auf Papier – jedoch als Spiegelung im Wasser. Eine Waldhütte von Stephanie Marx entpuppt sich erst bei näherem Hinsehen als Überblendung zweier Perspektiven. Und die monumentale Wiesenlandschaft von Herbert Eugen Wiegand gibt sich erst auf den zweiten Blick als Kriegsszene aus dem Ersten Weltkrieg zu erkennen.
All das und noch viel mehr sieht man hier – darunter einen wunderschönen, tiefschwarzen, zwischen Abstraktion und angedeuteter Alblandschaft schwebenden Druckstock der Reutlingerin Tanja Niederfeld.
Und all das trifft in den Vitrinen auf Blätter älterer Künstler mit ähnlichen Ansätzen, Themen, Motiven: HAP Grieshaber natürlich, Félix Valloton, Willi Baumeister, Gerhard Marcks, Edmund Kesting, Wilhelm Laage und andere. Landschaften, Wolken, Wasser, Kriegsszenen, abstraktes Formenspiel. Spielerisch ergeben sich Bezüge, Sichtachsen, Anklänge, Dialoge. Der Besucher ist eingeladen, darin einzutauchen. Die Sammlung des Kunstmuseums, sie ist durch die Neuerwerbungen bereichert. (GEA)
AUSSTELLUNGSINFO
Die Ausstellung »Wanted: Woodcuts – Die neuen Holzschnitte für die Sammlung« ist im Kunstmuseum Reutlingen/ Galerie in den Wandel-Hallen von 28. August bis 6. März zu sehen, Dienstag bis Samstag 11 bis 17 Uhr, Donnerstag bis 19 Uhr, Sonn- und Feiertage 11 bis 18 Uhr (Heiligabend und Silvester geschlossen). Eröffnung ist diesen Freitag, 27. August, um 18 Uhr. Anmeldung unter Angabe der Kontaktdaten unter der unten angegebenen Mailadresse ist notwendig. (GEA)