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Fantasien, die Realitäten schaffen

In der Eingangshalle des Reutlinger Rathauses zeigen 15 Künstlerinnen der Gedok Reales und Irreales

Elke Roth: »Proteus«. FOTOS: STRÖHLE
Elke Roth: »Proteus«. FOTOS: STRÖHLE
Elke Roth: »Proteus«. FOTOS: STRÖHLE

REUTLINGEN. Proteus, ein surrealer Meeresgott der griechischen Mythologie, begrüßt die Besucher in der Eingangshalle des Reutlinger Rathauses. Elke Roth hat die Skulptur aus Gips, Draht, Binden und Acrylfarben erschaffen. Für die Tübinger Künstlerin ist er ein »Seher mit undurchsichtigem Charakter, der sein Wissen ungern preisgibt«. Sie rückt ihn in die Nähe eines mittelalterlichen Narren, gibt ihm zwei Unterleibe und schreibt: »In unserer ver-rückten Zeit der Widersprüche und ungelöster Fragen wünschte man sich zuweilen einen solchen wandelbaren, surrealen Seher, dem man ab und an ein Stück Wahrheit abtrotzen könnte – es wäre der Mühe wert.«

Von 15 Künstlerinnen stammen die Beiträge zum Thema »real – irreal – surreal« in der Frühjahrsausstellung der Künstlerinnengemeinschaft Gedok, die bis zum 17. Mai im Rathaus zu sehen ist. Verwaltungsbürgermeister Robert Hahn äußerte sich bei der Ausstellungseröffnung, die von Schülern der Musikschule Reutlingen mit Popmusik umrahmt wurde, ähnlich wie Elke Roth. »Wir leben ja in einer Zeit, die es uns schwer macht, unseren Sinnen noch zu trauen. Was ist real, was ist irreal, wenn man an die Dinge denkt, die sich im Internet abspielen mit sogenannten Bots und sogenannten Trollen?«, sagte er – und ergänzte mit Blick auf den Brexit: »Schaffen surreale Fantasien neue Realitäten?«

Nicht vordergründig politisch, vielmehr dezidiert künstlerisch sind die gezeigten Positionen, wobei sich ein vielfältiges Gesamtbild ergibt. Jutta Peikert hat aus Keramik den Kopf einer furchig-zerklüfteten Medusa mit stierem Blick geschaffen. Alles an ihr scheint in schlängelnder Veränderung begriffen. Es könnten auch Menschen sein, die da auf dem geschundenen Erdball sitzen, Halt suchen und immer wieder abrutschen. Die in Birgit Hartsteins Gemälde-Collagen »Augenblicke 1 und 2« dargestellten menschlichen Gesichter nehmen ganz unmittelbar den Betrachter in den Blick. Wie von Wolfsaugen fokussiert fühlt man sich. Die animalischen Pupillen – oder sind es Seelenspiegel? – können einem Respekt, ja Furcht einflößen.

Renate Quast hat in der pinkfarbenen Fotografie »Von Rathaus zu Rathaus« die reale Abendbeleuchtung des Ratsgebäudes im italienischen Pistoia eingefangen. Man sieht ein Schattenspiel geometrischer Muster an der Decke – und erkennt doch nichts, was man, ohne dass man die Fantasie bemüht, deuten kann.

Susanne Reusch hat in ihrer Arbeit »Für Durchblicker« zwei Teller auf einer Tischplatte platziert, einen direkt auf das Holz, einen auf eine blaue Tischdecke. Aus den Tellern ist jeweils eine Scherbe herausgebrochen. Man kann hindurchsehen, so scheint es. Oder ist doch alles ganz anders?

Filigrane Gespinste

Jolanta Switajskis Skulptur »Loslaufen« zeigt elf Figuren, herausgesägt aus einem Eichenstamm. Menschen, überwiegend Frauen und Kinder, die sich auf die Reise machen, um einen Platz zum Leben zu finden. »Frieden, ein Traum von Millionen von Frauen global«, hat die aus Polen stammende Bildhauerin in einem kommentierenden Text hinzugefügt.

Jacqueline Wanner hat ein Stück verkohltes Holz mit Schlaggold versehen und dieses Objekt »Metamorphose« genannt. Die Glut scheint zurückgekehrt, im Morbiden deuten sich Glanz und Schönheit an.

Der Versuch, Figuren und Strukturen zu übersetzen, »in unerwartete, unerklärliche Formen und Materialien zu überführen«, sei ein wesentliches verbindendes Element dieser Ausstellung, sagte die Interimsleiterin des Kunstvereins Reutlingen, Julia Berghoff, die auch der Jury angehörte, in ihrer Einführung.

Heidi Degenhardt hat aus dem natürlichen Schwammkürbis Luffa und flüssigem Porzellan Objekte entstehen lassen, die, so Berghoff, »wie Relikte aus einer anderen Realität« erscheinen. Elke Mauz’ wie ein Faradayscher Käfig wirkende Mohnkapsel ist, man glaubt es kaum, ebenfalls aus Porzellan. In Fantasiewelten hinein führt auch Ingrid von Normann mit ihren netzartigen Geweben. Einfaches Treibgut oder ganze Galaxien mag man in den filigranen Gespinsten aus gekochten Kozo-Fasern erkennen. Kathrin Fastnacht kombiniert in ihrem Triptychon »Das Gras wachsen hören« reales Gras, Aquatinta und Weichgrundätzung zu einem kontrastreichen Dreiklang von Assoziation und Abstraktion. Margret Bergers Ölgemälde »Amazonas 1 und 2« präsentieren einen Sinneseindruck aus der Natur in bloße Farbfelderakzente aufgespalten. Damit ist sie von den Assoziationen auslösenden Farbexplosionen, die Helga Mayer in einer Spraypaint-auf-Folie-Arbeit zeigt, nicht weit entfernt. In Petra Blum-Jelineks »Zukunft in Rot« begegnen einem grob gerissene Farbfelder aus, so Julia Berghoff, störrischem Material. Gerburg Stein inszeniert in ihrem Diptychon »Richtfest« Menschen- und Vogelsilhouetten, die etwas zutiefst Rätselhaftes ausstrahlen. (GEA)

Ausstellungsinfo

Ausstellungsinfo

Die Ausstellung »real – irreal – surreal« mit Werken von Künstlerinnen der Gedok Reutlingen ist bis zum 17. Mai in der Eingangshalle des Reutlinger Rathauses zu sehen. Geöffnet ist Montag bis Freitag von 10 bis 17 Uhr. (GEA)