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Aktuell Sinfoniekonzert

Fahrender Gesell und die Genesis

REUTLINGEN. Dass Kunst und Alltagswirklichkeit nicht dasselbe sind, wurde beim Sinfoniekonzert der Württembergischen Philharmonie Reutlingen am Montag allein schon an der Kleidung augenfällig: Bariton Nikolay Borchev, der Gustav Mahlers »Lieder eines fahrenden Gesellen« sang, sah so gar nicht nach einem Vagabunden (zumindest abseits der Konzertsäle) aus, sondern trug Frack.

Um Äußerlichkeiten sollte es aber auch nicht gehen bei diesem Konzert, das die Philharmonie, unterstützt von der Baden-Württemberg-Stiftung, der Musik der jüdischen Diaspora gewidmet hatte. Am Pult stand mit dem 81-jährigen Komponisten und Dirigenten Noam Sheriff ein Altmeister dieser Kunst. Und auch der Reutlinger Knabenchor Capella vocalis trug zum wunderbaren Reiz dieses Abends bei.

Die Philharmonie hat schon ein bisschen suchen müssen, um an die Noten zu Jakob Schönbergs (1900–1956) Werken heranzukommen. In New York wurde sie fündig und konnte dem Reutlinger Publikum mit Schönbergs »Suite für Orchester in 6 Sätzen« sogar eine Uraufführung bieten – fast 80 Jahre, nachdem die Komposition entstanden ist.

Ungeheure Sogwirkung

Jakob Schönberg, in Fürth geborener Neuerer jüdischer Kunstmusik, geriet nach seiner Flucht aus Nazi-Deutschland und seinem frühen Tod in den USA jahrzehntelang in Vergessenheit. Einige seiner Werke wurden noch bis zum Ende der 1930-Jahre in Deutschland gespielt, allerdings lediglich im Rahmen der Veranstaltungen der Jüdischen Kulturbünde. Aus dem deutschen Kulturleben wurden jüdische Künstler systematisch ausgeschlossen.

Die Suite in 6 Sätzen, basierend auf Schönbergs früheren Bearbeitungen jüdischer Volkslieder aus Palästina, kommt in der Darbietung durch die Württembergische Philharmonie kraftvoll, schwermütig, sanft wiegend und mit rhythmischen Widerhaken daher. »Das palästinensische Melos bestach mich, ich verfing mich in dieser reizvollen neuen Welt«, ist als Aussage Schönbergs überliefert. Märsche, eine Pastorale und ein Allegretto »quasi tempo die valse« sind unter den Sätzen, die vom Stil her teilweise an Strawinsky erinnern. Schön der Dialog zwischen Flöte und Solobratsche in der Pastorale, apart das Zwiegespräch zwischen Trompete und Solovioline im »Cantabile ma poco con moto«.

Jakob Schönbergs »Chassidische Suite«, die nach der Pause erklingt, stammt ebenfalls aus den 30er-Jahren. Ihr besonderer Reiz liegt darin, dass Schönberg volkstümliches Melos chassidischer Juden mit alten deutschen Barockformen kombiniert. Auf eine dreistimmige Invention folgt eine Fantasia, darauf eine vierstimmige Fuge. Eigenwillig wirkt das Ganze. Flöten-Melismen treffen auf Oboen-Pentatonik, Rhythmen auf Gegenrhythmen, die Schlusswendungen sind lapidar. Besonders »Horra«, die formstrenge Fuge, entwickelt eine ungeheure Sogwirkung.

Klangmagisch kann man fast schon nennen, wie die Orchestermusiker unter Sheriffs Leitung die Stimmungen in Mahlers Liedern eines fahrenden Gesellen ausleuchten. Der in Pinsk in Weißrussland geborene Nikolay Borchev zeichnet mit seinem warm timbrierten Bariton klar und ausdrucksstark die Gefühle des liebesleidgeplagten lyrischen Ichs. Auch mit Kopfstimme gelingen ihm klanglich ungetrübt ergreifende Momente. Bei der tragischen Kulmination im dritten Lied »Ich hab’ ein glühend Messer in meiner Brust« laufen das Orchester und er zur Höchstform auf.

Welt und Traum

Trommelwirbel, Marschpunktierungen und Molltonarten verdeutlichen die reale Welt, Naturlaute hingegen unterstreichen die Ästhetik einer Traumwelt, in der der Leidende Linderung findet. Gustav Mahler prägte den Satz: »Ich bin dreifach heimatlos: als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude in der ganzen Welt«. Im Liederzyklus von 1885 klingt diese Zerrissenheit an.

»Meine Software ist jüdisch, meine Hardware deutsch«, sagt Noam Sheriff über sein musikalisches Schaffen. Der Sohn russischsprachiger Eltern ist 1935 in Tel Aviv geboren. Seine Lehrer sprachen fast ausschließlich Deutsch. Von ihm war beim Sinfoniekonzert die Komposition »Bereshit« (Genesis) zu hören, die sich auf das erste Buch Mose bezieht und sich in sehr persönlicher Reflexion mit dem Werden und In-die-Welt-Treten, mit Chaos und Licht beschäftigt.

Bis auf einen kurzen lateinischen Abschnitt hat der Kinderchor Hebräisch zu singen. Die Chorknaben der Capella vocalis (Einstudierung Christian Bonath) tun das ausgesprochen klangschön und hoch konzentriert, in schöner Abstimmung mit dem sensibel agierenden Orchester. Til Krupop (Sopran) und Jan Jerlitschka (Alt) singen ihre solistischen Parts souverän. Es ist eine Freude, ihnen zuzuhören. Mit einem milden »Amen« klingen das beeindruckende Stück und auch das Konzert aus. (GEA)