TÜBINGEN. »Ich liebe dich«, sagt die eine Person. »Ich dich nicht«, sagt die andere. Da ist sie, die Tragödie, das Missverstehen, das Misslingen einer ganzen Welt. Aber weshalb? Juli und Lia, die erste und die zweite Person, wissen es nicht. Die beiden, das zeigt sich schnell, kommen eigentlich ganz gut miteinander zurecht, sie sind Freunde – aber doch gibt es da die Distanz, die nicht zu überbrücken ist, die Gefühle, die unterschiedliche Intensität besitzen, etwas, das fehlt. Was aber ist das überhaupt? Mehr als nur ein Wort?
Im LTT sind es Juli und Lia, gespielt bei der Premiere des Stückes von Fenna Benetz und Toni Pitschmann, die sich diese Fragen stellen; in Kristo Šagors Originaltext heißen die Figuren Julian und Lia. »Ich lieb dich« heißt das Stück, zuerst aufgeführt 2018 in München, 2019 mit dem Mülheimer Preis für deutschsprachige Kinderstücke ausgezeichnet. Im oberen Saal des LTT tritt es sehr kindlich und sehr bunt auf: Die Mitte der Bühne beherrscht eine enorm große Jeansjacke, die da steht, als stecke jemand in ihr. Die Jacke ist in grell mit roter, gelber Farbe gemalt, schreit Emotion geradezu hinaus in den Theatersaal. Juli und Lia umkreisen sie, auf ihrer Suche nach der Bedeutung der Liebe, sprechen miteinander, gegeneinander, befragen sich.
Die Kinder haben Fragen
Bei diesem Spiel, das sich zuerst nur mit der Frage der Liebe beschäftigt, tritt nach und nach eine Geschichte hervor, oder: mehrere Geschichten. Sie handeln vom Heranwachsen, von den Veränderungen, die es mit sich bringt, von den Familien, zu denen Lia und Julia gehören, von Eltern, die streiten und sich scheiden lassen oder nicht. Immer wieder fragen die Kinder ganz naiv, blicken auf die Erwachsenen, versuchen auch, zu erraten, was ihnen die Liebe bedeutet. Und worin unterscheidet sich die Liebe zu einem Meerschweinchen oder zu einer Sorte Eis von der Liebe zu einem Menschen?
Denn Juli liebte, ehe sie das Cola-Eis liebte, das Zitroneneis. Lia spielt nun das höchst beleidigte Zitroneneis, weinend, klagend, jammernd, wütend. »Erkennst du mich nicht mehr? Ich bin’s! Das Zitroneneis!« Das Zitroneneis wird richtig böse, es droht mit Unvorstellbarem: »Ab 27 wird dein Lieblingseis Joghurteis sein! Dein Leben lang!«, schimpft es. Juli ist entsetzt. »Für immer?«
Spiel und Ernst
Toni Pitschmann, Mitglied des LTT-Ensembles, spielt Juli zurückhaltend, verletzlich, fragend. Sie ist das Scheidungskind. Fenna Benetz, derzeit auch am Zimmertheater in »Muttertier« zu sehen, ist Lia, ihr wilder, Possen reißender, ausgelassener Gegenpart, immer zu Späßen und kleinen Provokationen aufgelegt – eine Projektion zudem, denn, dies zeigt sich ganz zuletzt, beide trennt viel mehr als nur ein Missverständnis. »Ich lieb dich« ist das erste Stück, das Gil Hoz-Klemme am LTT inszeniert; Yvonne Schäfer schuf Kostüme und die Bühne. Die knallbunte Jeansjacke dort steht für Jugend und Gefühlsstürme, sie bietet den Darstellerinnen aber auch zahlreiche Spielmöglichkeiten, wird mit ihren langen Ärmeln zu einem Sprechapparat, öffnet sich und wird zum Versteck, dreht sich, wird zu einer kleineren Bühne. Juli und Lia bewegen sich dort im kindlich-emotionalen Spiel immer mehr auf einen großen Ernst zu. Ihr junges Publikum gewinnen sie bei der Premiere, sorgen erst für Gelächter, dann für Nachdenklichkeit. (GEA)