REUTLINGEN. Die Württembergische Philharmonie Reutlingen kommt derzeit viel herum. Seit die Konzertsaison wieder begonnen hat, war das Orchester im Festspielhaus Baden-Baden, um an mehreren Abenden die Livemusik zu John Neumeiers »Nijinsky« mit dem Hamburg Ballett zu spielen. Im Dezember bringt das Ensemble dort, ebenfalls an mehreren Abenden, mit dem Nationalballett der Ukraine das Ballett »Die Schneekönigin« zur Aufführung. Gastkonzerte gibt das Orchester zudem im oberösterreichischen Wels und - an diesem Donnerstag - im Großen Saal des Musikvereins in Wien.
Ein Name steht dabei jeweils - neben dem Orchester selbst und Chefdirigentin Ariane Matiakh - auf den Plakaten: Lionel Martin. Der junge Tübinger Cellist, gefördert durch die Anne-Sophie Mutter Stiftung und im Jahr 2021 in das Programm »SWR Kultur New Talent« aufgenommen, präsentiert sich im Stadttheater Wels und im Wiener Musikvereinssaal als Solist in Robert Schumanns Cellokonzert in a-Moll. Begleitet von der Württembergischen Philharmonie hat er am Montagabend beim Sinfoniekonzert in der Reutlinger Stadthalle unter Beweis gestellt, dass er imstande ist, ein Publikum zu verzaubern.
Lyrisches Duett
In Schumanns Konzert, dessen Uraufführung im Jahr 1860 in Leipzig der Komponist nicht mehr erlebte, brachte Lionel Martin sein Instrument anmutig zum Singen. Er leuchtete berührend melancholische Tiefen aus, führte die Musik zu emotionalen Ausbrüchen. Wobei jede Phrasierung, das Atmen und Seufzen, vom Ausdruck geprägt war - unakademisch, wie es Schumann gefallen hätte, nicht in die Welt gesetzt, um irgendeiner Norm, einem vorgestanzten Sentiment zu entsprechen. Das machte Lionel Martins Spiel zu einem, das frisch wirkte. Als entwickele sich jeder Ton, jede Note, jedes Motiv kompromisslos aus dem gerade empfundenen Moment heraus. Bezaubernd geriet das lyrische Duett, das der junge Musiker zusammen mit dem Solocellisten der Württembergischen Philharmonie, Dong Nyouk »Sunrise« Kim, im langsamen zweiten Satz spielte.
Überhaupt klang vieles in dieser Wiedergabe wie Kammermusik. Das Orchester unter Ariane Matiakhs ebenso sensibler wie klarer Leitung nutzte die spannungsreiche Verflechtung mit dem Soloinstrument, um Wendungen im Stück vorzubereiten, nachklingen zu lassen. Oder kraftvoll Impulse zu setzen. Träumerei und ein dramatisches Rezitativ über Tremolo-Streichern lagen dicht beieinander. Eingeleitet hatten die Holzbläser das Werk mit drei Akkorden, die an den Beginn von Felix Mendelssohn Bartholdys »Sommernachtstraum«-Ouvertüre erinnerten.
Begeisterung im Saal
Begeisterung in der vollbesetzten Reutlinger Stadthalle brach sich Bahn. Lionel Martin spielte zwei Zugaben - Johann Sebastian Bachs Sarabande aus der ersten Cellosuite und ein weiteres Barockstück, bei dem Dong Nyouk »Sunrise« Kim und er wunderbar harmonierten.
Schön, dass die Württembergische Philharmonie mit Grazyna Bacewicz' »Ouvertüre für Sinfonieorchester« auch ein kraftvoll-beeindruckendes Stück einer Komponistin spielte - nach der Befreiung Polens 1945 beim Krakauer Festival für zeitgenössische Musik uraufgeführt, aber bereits 1943 entstanden. Die polnische Komponistin Bacewicz (1909-1969) hatte Anfang der 1930er-Jahre in Paris bei Nadia Boulanger, André Touret und Carl Flesch studiert.
Schicksalsmotiv zieht sich durchs Stück
Ein rhythmisches Paukenmotiv, geformt wie das »Schicksalsmotiv« aus Ludwig van Beethovens 5. Sinfonie, steht am Anfang dieser Ouvertüre und läuft motorisch das gesamte Stück über auch in anderen Instrumenten weiter; befeuert ein Allegro mit Blech- und Holzbläser-Interventionen, weicht vorübergehend einem kontemplativen Andante mit lyrischen Solopassagen, um dann wieder den energischen Charakter zu erhalten, mit dem die Ouvertüre begonnen hat. Fanfaren der Blechbläser lassen die Schluss-Sequenz nachgerade triumphal klingen. Was für ein fulminanter Einstieg in den Abend!
Nach der Pause war es Johannes Brahms' 2. Sinfonie, die die Qualitäten der Württembergischen Philharmonie vor Augen führte. Ariane Matiakh, in ihrer französischen Heimat als »Officier de l’ordre des Arts et des Lettres« geehrt, führte das Orchester mit motivierendem Gestaltungswillen von pastoraler Idylle über lyrische Gesanglichkeit und dramatische Emphase zu entfesselter Energie und strahlendem Durchbruch mit jubelnden Fanfarenklängen. Vier Sätze erklangen da in beeindruckender Dichte und Transparenz, die Brahms als Meister der Sinfonik auswiesen, als einen Komponisten, der es verstand, aus einer Begleitfigur in den Celli und Bässen Themen für die ganze Sinfonie zu gewinnen. Diese Musik bewahrte sich trotz melancholischer Momente eine heitere Grundstimmung und erzielte mit einer beifallheischenden Stretta die gewünschte Wirkung. Erneut herrschte helle Begeisterung im Saal. (GEA)

