STUTTGART. Was sind das doch für nette alte Damen! Abby und Martha Brewster schwirren so herzig umher, in ihrem schönen, altmodischen Haus. Mortimer, ihr Neffe, kommt vorbei und bringt seine Braut mit; die Polizei schaut zur Tür herein und grüßt die beiden Schwestern herzlich. Hier ist die Welt noch in Ordnung, hier sitzt das Herz am rechten Fleck. Oder etwa nicht?
Nur nicht in die Kiste schauen!
So manches ändert sich, als Mortimer versehentlich die Kiste unterm Fenster öffnet. Drinnen liegt ein toter Mann. Die Tanten finden das nicht außergewöhnlich. Im unschuldigsten Plauderton eröffnen sie dem Neffen, dass sie schon vielen älteren, alleinstehenden, unglücklichen Herren die Wohltat eines schnellen Endes bereitet haben. Der Wein war giftig, die Leichen liegen im Keller begraben. Onkel Teddy, der sich für Theodor Roosevelt hält, oft ein schrilles Horn spielt und kriegerisch die Treppe aufwärts stürmt, hat sie dort bestattet. Bei solcher Gelegenheit tragen die Damen dann auch Schwarz und trauern inniglich.
Mortimer schnappt nach Luft. Doch das ist längst nicht alles. Zur Tür hereinspaziert kommt Jonathan, ein weiterer Neffe, Mortimers Bruder also, ein passionierter Mörder auch er, nur weniger wohltätig gesinnt. In seiner Begleitung: ein Doktor Einstein, zuständig für plastische Chirurgie, illegalerweise. Gerade hat er Jonathan mit wenig Geschick ein neues Gesicht verpasst – der schaut nun aus wie Frankenstein, und jedes Mal, wenn jemand ihn darauf hinweist, steigt neue Mordlust in ihm auf.
Haarsträubende Geschichte
»Arsen und Spitzenhäubchen« war das einzige erfolgreiche Stück, das Joseph Kesselring verfasste. 1944 wurde es von Frank Capra verfilmt, mit Cary Grant und Peter Lorre in tragenden Rollen – ein unvergessener Klassiker des Films und der Bühne und gewiss kein Stück, das sich für eine Neuinterpretation empfehlen würde. Im Gegenteil: Diese haarsträubende Geschichte glänzt umso schöner, je besser es einer Inszenierung gelingt, die Farben des Originals aufzufrischen, die liebreizenden Brewster-Schwestern, ihre nahe Verwandtschaft und all ihre Gäste wieder aufleben zu lassen.
Siegfried E. Mayer schuf für das Alte Schauspielhaus in Stuttgart ein Interieur, das geradezu viktorianisch wirkt, mit schweren hölzernen Türen, rotgepolsterten Stühlen, Häkeldeckchen, Läufern, Fenstern aus buntem Glas. Mitten darin verströmen Annette Mayer und Bettina Franke unter silbergrauen Haaren, mit zuckersüßem Lächeln, nichts als Heimeligkeit. Andreas Klaue als Teddy wirkt immerzu frisch und munter und geistesgestört, Anna Pircher als Elaine, Mortimers Braut, Tochter eines Pfarrers, resolut, gesund und lebenstüchtig. Dann kommt Dirk Waanders als Jonathan Brewster auf die Bühne, ein kantiger Schrank mit seltsam verzogenen Zügen, kommt Marius Hubel als Dr. Einstein, kommt Klaus Cofalka-Adami als Polizeichef, aber auch als ein besonders fieser, unfroher Gast, der noch rechtzeitig von Mortimer zur Tür hinausgeschoben wird. Christian Werner schließlich spielt einen zweiten Polizisten.
Noch makaberer auf dem Theater
Jede Rolle ist in Robin Telfers Inszenierung vorzüglich besetzt, mit Schauspielern, die das haarsträubende Familienporträt gestalten, ganz im Stil des alten Hollywood. Als Film wurde »Arsen und Spitzenhäubchen« berühmt, zuerst da war das Theaterstück, und als solches funktioniert der Stoff eigentlich noch besser. Weshalb? Weil Mortimer, die vom familiären Wahnsinn geschüttelte Hauptfigur, Theaterkritiker ist - einer von der bösen Sorte, einer, der sich schon auf den nächsten Verriss freut. Spiel und Wirklichkeit im Spiel tauschen augenzwinkernd die Plätze: Gideon Rapp als hagerer Polizist O’Hara, zu blöde, um zu bemerken, dass er von Mörderinnen umzingelt ist, rückt Mortimer mit einem selbstverfassten Bühnenstück auf den Pelz, liest ihm den ganzen ersten, überlangen Akt vor. Und Mortimer selbst macht sich lustig über die Einfalt eines Bühnenautors, der am selben Abend im Theater gespielt wird und in dessen Stück ein Verbrecher sein Opfer mit einer Gardinenschnur fesselt.
Der Kritiker höhnt – und der Blick des fiesen Jonathan fällt just in diesem Augenblick auf eine Gardinenschnur im Hause der Brewster-Schwestern. Die Szene dupliziert sich sehr präzise, und Jörg Pauly, im dreiteiligen dunklen Anzug ein ohnehin sehr überzeugender Mortimer, lässt den bald schon Festgezurrten und Geknebelten verdutzt mit aufgerissenen Augen in den Theatersaal blicken.
Eine wohltätige Familie
»Arsen und Spitzenhäubchen« ist ein Stück, das hilft, nicht nur Mord und Totschlag, sondern auch andere Familiengeheimnisse auf die leichte Schulter zu nehmen. Zuletzt ist das Idyll fast wieder hergestellt, und Mortimer ist überglücklich, als er erfährt, ein Bastard zu sein – ein uneheliches Kind also, mit den Brewsters kein bisschen verwandt. Zur Weihnachtszeit, wenn aller Orten andere Verwandtschaft sich versammelt, ist manch einer, manch eine vielleicht wirklich froh, dass es auf dem Theater noch seltsamere Familien gibt. Und sollte dies nicht der Fall sein, dann fühlt er sich gewiss weniger alleine. (GEA)
Bis zum 27. Januar. schauspielbuehnen.de