REUTLINGEN. Von einem kulturellen Sommerloch ist keine Spur am Montagabend im Reutlinger Pappelgarten – dort sitzt das Publikum dichter als zumeist, und das verwundert nicht: Mit dem italienischen Pianisten Enrico Pieranunzi und dem dänischen Kontrabassisten Thomas Fonnesbæk stehen zwei Virtuosen auf der kleinen Clubbühne.
Wenige Tage erst sind vergangen, seit Pieranunzi und Fonnesbæk ihr Album »Blue Waltz« veröffentlicht haben, das sie live in einem Bistro in Kopenhagen eingespielt haben. Die ganze Energie dieses Auftritts transportieren die Musiker nun auch in Reutlingen: das Publikum erlebt ein Zusammenspiel von atemberaubender Intensität.
Milde Ironie
Es ist auch eine Begegnung der Generationen, die hier stattfindet – Enrico Pieranunzi, geboren 1949 in Rom, ist fast 30 Jahre älter als Thomas Fonnesbæk. Und doch treffen beide sich ganz auf Augenhöhe. Der Ältere überlässt dem Jüngeren große Freiräume, tritt oft ganz zurück, setzt nur ein Gerüst sparsamer Akkorde unter Fonnesbæks flirrendes, variantenreiches Saitenspiel – und der Ausdruck, den einer der beiden auf seinem Instrument findet, begegnet immer wieder einer nicht minder großen Eindringlichkeit, einem flexibel verspielten, sensiblen Können auf der Seite des anderen. Hier musizieren zwei Meister, die ihre Tasten, Saiten auf weite Ausflüge schicken, sie dann zum Duett vereinen.
Enrico Pieranunzi trat auf mit vielen Größen des Jazz, mit Charlie Haden, Chet Baker, Paul Motian, unzähligen anderen. Sein Spiel ist sehr deutlich vom Vorbild Bill Evans’ geprägt – und selbstverständlich darf der Hörer deshalb auch an Keith Jarrett denken.
Pieranunzi taucht melodisch ein in seine Stücke, entlockt dem Piano mit leichtem Anschlag, viel Gefühl glänzende Melodien, führt diese dann bald schon hinaus in weite, impressionistisch anmutende Improvisationen, lässt sie zerfallen in klingende Partikel, geht mit weit gespreizten Händen in großen Schritten über seine Tasten, spielt Stakkati, blitzschnelle kleine Läufe, verknappt die Melodien zu Kürzeln, entfaltet sie erneut.
Der Standard »All the Things you are« verwandelt sich auf diese Weise in eine schillernde, auch schwierige Neuschöpfung; ein Walzer, den Enrico Pieranunzi selbst komponierte, »Fellini-like«, wie er sagt, dreht sich ganz ähnlich: Der unverhohlene Romantizismus, mit dem der Pianist ihn beginnt, wandelt sich zu milder Ironie – Thomas Fonnesbæk ist es, der hier laut auflacht – gewinnt wieder an Pathos, wird zum schwerelosen Klangbild, im Wechsel von sanften, vollen, klaren, sehr schnell und präzise gesetzten Noten. Und Thomas Fonnesbæk, jener dänische Gemütsmensch am Kontrabass, hängt mit seinen Augen unentwegt an Enrico Pieranunzi, scheint von seinem Gesicht jede Wendung, jede Pause abzulesen, in die er sich hineinbegibt, findet mit nahezu telepathischer Sicherheit auf seinem Griffbrett die Antworten auf alle Fragen.
Lange Glissandi
Fonnesbæk lässt seine Finger flüssig und mit betörender Geschwindigkeit über sein Instrument hin fliegen, zeichnet klare, temporeiche Muster unter Pieranunzis Spiel, spielt Soli, die den Bass in ein lebendes Wesen zu verwandeln scheinen, streicht voll über all seine Saiten, schlägt einzelne Noten an, tief und trocken, zieht lange, singende Glissandi aus ihnen hervor. Mehr als zwei Stunden dauert der Doppelgesang von Kontrabass und Piano im Reutlinger Pappelgarten; das Publikum lauscht gebannt, applaudiert spontan, energisch.
Enrico Pieranunzi tritt hier, zwischen den Stücken, auch auf als ein Erzähler kurzer humorvoller Geschichten, berichtet von den Konzerten in Kopenhagen, bei denen »Blue Waltz« entstand, erzählt auch die Geschichte eines Stückes, das viel älter schon ist und einem bekannten Genre ganz neue Facetten entlockt: »Five plus five« heißt es, Enrico Pieranunzi schrieb es für sich selber, zu seinem 55. Geburtstag, ein Blues musste es sein – »A long time ago«, das sagt er, und schmunzelt. (GEA)