Lyrische Flötentöne hatten die zahlreichen Besucher im Foyer empfangen, wo wie jeden Abend die Festival-»Tagesschau« lief. Jez Colborne schlängelte sich dazu mit seiner Blockflöte durch die Menge. Elisabeth Braun erinnerte daran, dass er in der Vergangenheit schon einmal als DJ bei Kultur von Rande war. Nun präsentierte er sein Stück »Irresistible: Call of the Sirens« (Unwiderstehlich: der Ruf der Sirenen), das die gemischte Truppe aus Bradford 2012 für das Kulturprogramm der Olympischen Spiele entwickelt hatte. Regie führte Tim Wheeler.
Eine unwirtliche Welt
Im dunklen Saal kam fahles Licht von einer Filmleinwand, auf der eine Satellitenaufnahme der Erdkugel zu sehen war, über die später noch schwarze Vögel flatterten. Dazu heulte ein Sturmgewitter aus der aufwendigen Verstärkertechnik, Möwen kreischten und Menschen wärmten sich an einem offenen Feuer in einer Waschmaschinentrommel.Eine unwirtliche Welt umgibt den von Jez Colborne gespielten Tramp, diesen schmalbrüstigen Kerl mit vergissmeinnichtblauen Augen, wie eine Großaufnahme von ihm erkennen lässt. Aber eine Stimme hat dieser Gaucho, dass man sich fragt, warum er nicht in der Hall of Fame in Nashville gelistet ist!
»Longing for Home« singt Colborne – Die Sehnsucht nach der Heimat kann man ihm nachfühlen. Um ihn herum sind Penner, die Getränkedosen einsammeln und hektisch im Kreis fahrende obercoole Zeitgenossen. Auf der Leinwand wechselt das Bild zu einem Wasserlauf, der den Rhythmus der Musik seismografisch aufnimmt, ein Rabe thront am Ufer, dann ist plötzlich auch ein weißes Segelschiffchen da. Mehrfach jaulen handgekurbelte Sirenen auf, dann brüllt Lärm vom Band dazu bis hin zu einer ohrenbetäubenden Kakofonie, zu der Suchscheinwerfer über den Köpfen der Menge kreisen.
Ein Experimentalkonzert? Schon ist man geneigt, sich seinem Unverständnis hinzugeben, als sich doch noch die erwartete Handlung anbahnt. Drei Frauen auf der Bühne, von denen diejenige mit der besten Stimme auch die Songtexte in Gebärdensprache übersetzt, beginnen richtig gut diverse Popsongs zu performen. Aha, die Sirenen aus dem antiken Mythos. Mit Vuvuzelas trötet die Straßen-Crew dagegen an. Jez Colborne könnte nun Odysseus sein, den die brandgefährlichen Sirenen verführen wollen, doch er lässt sich nicht an den Mast seines Schiffes binden, um ihnen zu widerstehen.
Höchst begabt locken die drei Sirenen weiter. Da bricht ein Tumult los, den Colborne mit einem tierischen Schrei beendet, um die finale gemeinsame Rock-Fete einzuläuten. Seine Leute nutzen alles Greifbare als Perkussion, die Besucher klatschen und lassen sich nicht zweimal bitten, mitzutanzen. Natürlich gibt es eine Zugabe und wieder einmal wäre bewiesen, dass Rock ‘n’ Roll das ultimative Lebensgefühl beschert. (GEA)