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Aktuell Premiere in Stuttgart

Ein Tanz auf dem Vulkan im Stuttgarter Alten Schauspielhaus

STUTTGART. So brisant, so politisch war das Alte Schauspielhaus in Stuttgart seit Jahren nicht: Was sich wie eine nette Revue aus den wilden Zwanzigern anlässt, klagt vehement die neue Ultrarechte an, vor allem deren Kulturpolitik. Manfred Langners »Ein Tanz auf dem Vulkan« zeigt mit bissigem Witz und erschreckender Klarheit die Parallelen zwischen heute und damals, zwischen unserem postfaktischen, Facebook-aufgehetzten Zeitalter und dem Deutschland vor 100 Jahren. So gut, dass es einem immer wieder kalt den Rücken herunterläuft.

Wer wird denn hier mit Wäsche wedeln: Gideon Rapp und Ensemble. FOTO: HAYMANN
Wer wird denn hier mit Wäsche wedeln: Gideon Rapp und Ensemble. FOTO: HAYMANN
Wer wird denn hier mit Wäsche wedeln: Gideon Rapp und Ensemble. FOTO: HAYMANN
Ein elegant getanztes Charleston-Medley versetzt in die richtige Stimmung: Am Silvesterabend des Jahres 2019 wird eine Revue über die Roaring Twenties vor 100 Jahren geprobt. Bis ein Herr Lechler in den Zuschauerraum hereinplatzt, Abgesandter der Bundeskulturkammer, die unsere neue Regierung nach Abwahl der »Gutmenschen-Kanzlerin« eingerichtet hat. Er wird »im Sinne des neuen konservativen Zeitgeistes« die Revue begutachten. Langner hat genau nachgelesen, was die AfD mit der Kultur vorhat, und er zeigt es uns in den kritischen Einwürfen des Herrn Lechler, der mit lächelndem Selbstvertrauen Begriffe wie »völkisch« benutzt.

Überreich bestückt mit den stets passenden Liedern der damaligen Zeit zeigt der Abend die Parallelen zwischen 1920 und 2020 auf: die zunehmende Kluft zwischen Arm und Reich, die Amüsierwut, den Rechtsruck. Selbst einen neuen Bahnhof für 10 Milliarden Mark haben sie damals in Stuttgart gebaut. Vor einem Panorama der Stadt erfahren wir alles über OB Karl Lautenschlager oder den »undeutschen Stil« der Weißenhof-Siedlung, über Kaufhaus Schocken und Hotel Silber. Unzählige Kostüme zeigen den Jugendstil der Reichen und das Elend der Armen.

Manfred Langners Revue ist reich, rasant, detailgenau recherchiert, sie ist vor allem virtuos geschrieben und wird im Verlauf des Abends immer noch frecher; zuweilen schlägt die Sarkasmus-Skala bis kurz vor Böhmermann aus. Die von Dirigent Horst Maria Merz superb zusammengestellten Schlager-Medleys wechseln sich ab mit nachdenklichen, scharfen Liedern von Kurt Weill oder Hanns Eisler, mit Texten von Kurt Tucholsky und Bertolt Brecht, mit Tonfilm-Schlagern und aufmüpfigen Operettenliedern.

Dazwischen sind Spielszenen eingestreut, zum Beispiel über Langners einstigen Intendanten-Vorgänger Claudius Kraushaar oder eine schreiend komische, Mel-Brooks-würdige Hitler-Parodie. Besonders schön ist der Moment, wo der Kulturprüfer die Hitler- und Goebbels-Zitate von damals für Auszüge aus seinem eigenen Parteiprogramm hält.

Dem großartigen Ensemble ist die kabarettistische Hochgeschwindigkeit des Abends in die Adern übergegangen, das Salonorchester spielt wunderbar. So brillant, so aktuell, so unheimlich war schon lange keine Revue mehr.

Weitere Aufführungen: fast täglich bis 4. Februar. (GEA)