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Ein Schuljunge im Rentenalter

STUTTGART. Ian Anderson hat Humor. Eigenwilligen, aber unleugbaren Humor. 45 Jahre sind vergangen, seitdem der gebürtige Schotte die legendäre Rockband Jethro Tull gründete; 40 Jahre, seitdem Jethro Tull ihr ambitioniertestes Album »Thick as a Brick« veröffentlichten. Am Donnerstagabend nun steht Anderson, ein Rockstar von 65 Jahren, auf der Bühne des ausverkauften Stuttgarter Beethovensaals der Liederhalle und fragt sein vorwiegend männliches und meist nur geringfügig weniger betagtes Publikum, ob es denn schon bei der Prostatavorsorgeuntersuchung gewesen sei.

Nicht? In diesem Fall kann Abhilfe geschaffen werden. Ein williges Opfer wird aus dem Publikum rekrutiert und von einem freundlichen Weißkittel hinter die Bühne geführt, die sich in diesem Augenblick in eine große Leinwand für Schattenspiele verwandelt hat. Nun sieht man eine Silhouette, die sich einen Gummihandschuh überstreift, und eine zweite, die sich bückt. Auch gegen Ende des Abends, als man auf der Leinwand den Erzähler samt Pfeife vor einem Bücherregal erblickt, wird man, gewollt natürlich, an die legendäre »Rocky Horror Picture Show« erinnert.

Das skurrile Spiel mit Verweisen auf Kultur, Popkultur und Zeitgeschehen gehört zur Show; dadaistischer Sinn für das vollkommen Absurde und dabei sehr Trockene sind weitere Zutaten. Ian Anderson brilliert zudem einfallsreich mit dem Einbezug moderner Medien, wie man ihn in diesem Umfang bei einem Rockkonzert bislang kaum erlebte: Erschien der erste Teil des Konzeptalbums »Thick as a Brick« 1972 in der Form einer fingierten Tageszeitung, so gibt es nun, entwicklungsreiche Jahre später, Youtube-Clips und eine Geigerin, die mittels Skype ins Konzert eingespielt wird - und die nebenher ihre Kinder versorgt.

Clever verjüngt

Anderson, einer der zähesten Rockstars der 1970er-Jahre, hatte spätestens seit Mitte der 1980er-Jahre keine wirklich überzeugenden Alben mehr veröffentlicht, blieb jedoch dank seines unverwechselbaren Stils und seiner bemerkenswerten Vitalität präsent. Mit »Thick as a Brick 2« hat er sich nun natürlich nicht neu erfunden - aber clever verjüngt. Erzählte er 1972 von dem Schuljungen Gerald Bostock und seiner Weltsicht, entwirft der späte Nachfolger verschiedene Lebensläufe für diese Figur - und knüpft musikalisch nahtlos an den ersten Teil an.

Zu Ian Andersons Tourband gehören mit Keyboarder John O'Hara und Bassist David Goodier zwei Mitglieder der letzten Jethro Tull-Inkarnation. Neu ist Ryan O'Donnell, der einen Großteil der Gesangsparts übernimmt, als jugendlicher Akteur in vielen Rollen über die Bühne turnt und dabei Stock oder Regenschirm ganz so handhabt, wie Anderson seine Querflöte.

Die allerdings spielt der Meister noch immer trefflich selbst, mit allen Trillern und aller Übertreibung, so wild und wunderbar wie damals.

»Thick as a Brick« ist 2012 die mehr als zweistündige Live-Präsentation des nunmehr zweiteiligen Konzeptalbums - für eine Zugabe ist da eigentlich kein Platz. Das Publikum in der Stuttgarter Liederhalle muss also sehr lange bei Saallicht jubeln, bis es sie dennoch bekommt. Wie sie heißt, das muss man nicht verraten. (GEA)